Orientierungssatz

1. Die Bewertung der MdE einer beruflich erworbenen Allergie ohne akute Hauterscheinungen hängt davon ab, in welchem Umfang dem Versicherten dadurch das allgemeine Arbeitsfeld verschlossen ist (vgl BSG 1973-11-29 8/7 RU 66/71 = SozR Nr 15 zu § 622 RVO, BSG 1974-12-19 8 RU 296/73 = BSGE 39, 49).

2. Wird die Verletztenrente wegen einer beruflichen Hauterkrankung gewährt, weil die Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten des Versicherten dadurch geschmälert worden sind, daß er seine berufliche Beschäftigung aufgeben mußte, so sind ihm gleichwertige Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten nur erschlossen, wenn sie ihm die gleichen tatsächlichen Verdienstmöglichkeiten bieten. Das ist in der Regel dann der Fall, wenn er tatsächlich mindestens den gleichen Verdienst erzielt, wie er ihn mit seiner früheren beruflichen Beschäftigung erzielen würde. Ein Vergleich der Tarifgruppen der beiden zu vergleichenden Beschäftigungen ist deshalb nur möglich, wenn der Versicherte tatsächlich Tariflohn erhalten hat und erhält. Ist er jedoch übertariflich entlohnt worden oder hat er etwa im Akkord gearbeitet und war sein Verdienst deshalb oder aus noch anderen Gründen höher als der Tariflohn, ist zu prüfen, ob er in seiner früheren Stellung, wenn er sie nicht hätte aufgeben müssen, im Entziehungszeitpunkt unter denselben Bedingungen gearbeitet hätte und den entsprechenden, ggf inzwischen erhöhten Verdienst erzielen würde. Hiermit ist der mit der neuen Beschäftigung tatsächlich erzielte Verdienst zu vergleichen.

 

Normenkette

RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30; BKVO 7 Anl 1 Nr. 46 Fassung: 1968-06-20

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 28.02.1978; Aktenzeichen L 3 U 11/77)

SG Braunschweig (Entscheidung vom 17.12.1976; Aktenzeichen S 2 U 71/74)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Februar 1978 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, dem Kläger eine Unfall-(Berufskrankheiten-)Rente zu entziehen.

Der Kläger ist gelernter Maurer. Nach dreijähriger Lehre hat er ab Frühjahr 1959 bis zum 19. Februar 1973 in diesem Beruf gearbeitet. Sein Verdienst betrug im letzten Jahr vor der Einstellung der Tätigkeit als Maurer 30.110,01 DM.

Wegen einer Anfang der 60iger Jahre aufgetretenen Hauterkrankung hatte der Kläger seine Tätigkeit eingestellt. Mit ihrem Bescheid vom 28. Mai 1973 hatte die Beklagte iVm einem Anerkenntnis vor dem Sozialgericht (SG) vom 1. Oktober 1973 "Subchronisches Ekzem mit noch geringfügiger Rötung und Schuppung im Bereich der Fingergrundgelenke beider Hände; Chromatallergie" als Berufskrankheit anerkannt und ihm ab 19. Februar 1973 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH gewährt.

Umschulungsmaßnahmen in den Jahren 1974, 1975 hatten keinen Erfolg. Ab 22. September 1975 ist der Kläger als Auslieferungsfahrer in der Fliesengroßhandlung "F.-R. GmbH & Co." in Langenhagen beschäftigt. Sein Arbeitseinkommen wird nach Stundenlohnsätzen berechnet, die denen eines Fliesenlegers (Lohngruppe 2 der Lohntabelle für das Baugewerbe im Lande Niedersachsen) entsprechen.

Nach weiteren hautfachärztlichen Untersuchungen und Begutachtungen stellte die Beklagte mit Bescheid vom 13. Februar 1974 eine wesentliche Besserung im Umfang des Hautleidens fest; es bestehe nur noch eine "latente Ekzembereitschaft". Dadurch werde die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht mehr in rentenberechtigendem Grade gemindert. Sie entzog die Rente mit Ablauf des Monats März 1974.

Das SG Braunschweig hat nach Beweisaufnahme den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. April 1974 eine Dauerrente in Höhe von 20 vH zu zahlen (Urteil vom 17. Dezember 1976). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 28. Februar 1978).

Der Kläger hat Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der §§ 521 (gemeint ist wohl 551), 622 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie des § 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO).

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Februar 1978 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 17. Dezember 1976 zurückzuweisen, soweit sie die Aufhebung des Entziehungsbescheides vom 13. Februar 1974 betrifft.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil die tatsächlichen Feststellungen zu einer abschließenden Entscheidung nicht ausreichen.

Streitig ist die Rechtmäßigkeit des Entziehungsbescheides vom 13. Februar 1974. Ist dieser Bescheid rechtswidrig und deshalb aufzuheben, hat das zur Folge, daß der voraufgegangene Bewilligungsbescheid vom 28. Mai 1973 weiterhin wirksam bleibt und die Beklagte die bewilligte Rente weiterzuzahlen hat. Neben der gegen den Entziehungsbescheid gerichteten Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) besteht deshalb für eine auf die Weiterzahlung der bewilligten Rente gerichtete Leistungsklage kein Rechtsschutzbedürfnis. Sie ist deshalb unzulässig. Das Sozialgericht hätte daher neben der Aufhebung des Entziehungsbescheides die Beklagte nicht zur Zahlung der Rente ab 1. April 1974 verurteilen dürfen.

Das LSG hat eine die Rentenentziehung rechtfertigende wesentliche Änderung der Verhältnisse (§ 622 Abs 1 RVO) darin gesehen, daß der Kläger bei der ...-R. GmbH & Co eine Beschäftigung ausübe, die seiner früheren als gelernter Maurer, die er wegen seiner beruflich bedingten Hauterkrankung (Anl 1 Nr 46 zur 7. BKVO) hatte aufgeben müssen, gleichwertig sei. Die Beklagte hatte dem Kläger nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG wegen dieser Hauterkrankung ab 19. Februar 1973 mit dem Bescheid vom 28. Mai 1973 idF eines gerichtlichen Vergleichs vom 1. Oktober 1973 Rente nach einer MdE um 20 vH bewilligt, diese aber bereits mit dem streitigen Bescheid vom 13. Februar 1974 mit Ablauf des Monats März 1974 entzogen. Der Kläger begehrt deshalb die Aufhebung dieses Bescheides mit der Folge der Weiterzahlung der Rente über den 31. März 1974 hinaus. Die Beschäftigung bei der ...-R. GmbH & Co hatte der Kläger aber erst am 22. September 1975 aufgenommen. Für die Zeit vom 1. April 1974 bis 22. September 1975 konnten also dem Kläger mit der Aufnahme dieser Beschäftigung keine neuen gleichwertigen Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten eröffnet worden sein. Nach den Feststellungen des LSG war der Kläger nach der Aufgabe seiner Maurertätigkeit zunächst arbeitslos (S. 2 des Urteils). Ab Februar 1974 waren Umschulungsmaßnahmen eingeleitet worden, die jedoch erfolglos geblieben sind.

Das LSG hat allerdings ebenfalls festgestellt, die der Anerkennung zugrundeliegenden akuten Hauterscheinungen seien jedenfalls ab Anfang 1974 abgeklungen gewesen und es habe nur noch eine latente Ekzembereitschaft bestanden. Zu der Frage, ob in dieser Besserung des klinischen Befundes eine die Rentenentziehung rechtfertigende wesentliche Änderung der Verhältnisse zu sehen ist, hat das LSG nicht Stellung genommen. Offenbar hat es aber diese Besserung nicht für rechtserheblich gehalten, weil sonst auf die neue Beschäftigung und deren Gleichwertigkeit nicht einzugehen gewesen wäre. Vor seiner erneuten Entscheidung wird das LSG deshalb diese Frage zu prüfen und zu beachten haben, daß die Bewertung einer beruflich erworbenen Allergie ohne akute Hauterscheinungen davon abhängt, in welchem Umfang dem Versicherten dadurch das allgemeine Arbeitsfeld verschlossen ist (vgl ua BSG in SozR Nr 15 zu § 622 RVO; BSGE 39, 40, 50 mwN). Das LSG wird auch § 622 Abs 2 Satz 2 RVO zu beachten haben, wonach eine Dauerrente nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden kann.

Auch ist es nicht bedenkenfrei, daß das LSG die Beschäftigung des Klägers ab 22. September 1975 als gleichwertige Erwerbs- und Verdienstmöglichkeit und einer damit eingetretenen wesentlichen Änderung der Verhältnisse angesehen hat. Zwar hat der erkennende Senat wiederholt entschieden, daß bei beruflichen Hauterkrankungen eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eintritt, wenn sich dem Versicherten gleichwertige Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten erschlossen haben (BSGE 39, 49 ff; SozR 2200 § 622 Nr 7), und zwar gleichgültig, ob in Folge von Rehabilitationsmaßnahmen oder nicht (SozR 2200 § 622 Nr 10). Zu vergleichen sind hierbei der Verdienst, den der Versicherte im Zeitpunkt der Rentenentziehung gehabt hätte, wenn er seinen früheren Beruf nicht hätte aufgeben müssen und der Verdienst, den er zu dieser Zeit tatsächlich gehabt hat. Dabei sind denkbare Aufstiegsmöglichkeiten im früheren Beruf in der Regel nicht zu berücksichtigen (SozR 2200 § 622 Nr 10).

Das LSG hat hierzu festgestellt, der Kläger habe im letzten Jahr seiner Beschäftigung als Maurer 30.110,01 DM brutto verdient und werde bei der F.-R. GmbH & Co wie ein Fliesenleger nach Lohngruppe 2 der Lohntabelle für das Baugewerbe im Lande Niedersachsen entlohnt. Wie hoch sein tatsächlicher Verdienst war, hat es nicht festgestellt, sondern diese Beschäftigung als mindestens gleichwertig angesehen, weil der Tariflohn des Klägers als voll ausgebildeter Maurer in der Lohngruppe 3 derselben Lohntabelle entsprochen habe. Es hat also nicht die tatsächlichen Verdienste verglichen, sondern die Tariflöhne. Das entspricht nicht der von dem erkennenden Senat (aaO) vertretenen Rechtsauffassung. Wird die Verletztenrente wegen einer beruflichen Hauterkrankung (Anl 1 Nr 46 zur 7. BKVO); ebenso bei Nr 41 = Bronchialasthma und Nr 43 = Erkrankungen der Sehnenscheiden usw) gewährt, weil die Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten des Versicherten dadurch geschmälert worden sind, daß er seine berufliche Beschäftigung aufgeben mußte, so sind ihm gleichwertige Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten nur erschlossen, wenn sie ihm die gleichen tatsächlichen Verdienstmöglichkeiten bieten. Das ist in der Regel dann der Fall, wenn er tatsächlich mindestens den gleichen Verdienst erzielt, wie er ihn mit seiner früheren beruflichen Beschäftigung erzielen würde, es sei denn, daß er von einer sich ihm tatsächlich bietenden gleichwertigen Erwerbs- oder Verdienstmöglichkeit aus ihm zuzurechnenden Gründen keinen Gebrauch macht (SozR 5667 Anl 1 Nr 41, Nr 2). Ein Vergleich der Tarifgruppen der beiden zu vergleichenden Beschäftigungen ist deshalb nur möglich, wenn der Versicherte tatsächlich Tariflohn erhalten hat und erhält. Ist er jedoch übertariflich entlohnt worden oder hat er etwa im Akkord gearbeitet und war sein Verdienst deshalb oder aus noch anderen Gründen höher als der Tariflohn, ist zu prüfen, ob er in seiner früheren Stellung, wenn er sie nicht hätte aufgeben müssen, im Entziehungszeitpunkt unter denselben Bedingungen gearbeitet hätte und den entsprechenden, gegebenenfalls inzwischen erhöhten Verdienst erzielen würde. Hiermit ist der mit der neuen Beschäftigung tatsächlich erzielte Verdienst zu vergleichen, wobei es ebenso unerheblich ist, ob der Versicherte nach einem bestimmten, etwa seiner tatsächlichen Tätigkeit entsprechenden Tarif entlohnt wird oder sein Verdienst nach anderen Maßstäben bemessen ist. Erhält der Versicherte aber, wie der Kläger offenbar vortragen will, einen höheren Stundenlohn, als es seiner tatsächlich geleisteten Tätigkeit entspricht, weil er an mehr als 40 Stunden in der Woche arbeitsbereit sein muß oder zu außerhalb der üblichen Arbeitszeit liegenden Zeiten tätig sein muß, wie das bei einem Auslieferungsfahrer denkbar ist, so würde das die Vergleichbarkeit seines tatsächlich erzielten Verdienstes nicht beeinflussen. Lediglich in ungewöhnlichem Umfang durch regelmäßige Überstunden erzielte Verdienste wären nicht zu berücksichtigen.

Das LSG wird daher auch, soweit die Beschäftigung des Klägers bei der F.-R. GmbH & Co in Betracht kommt, die erforderlichen Feststellungen nachzuholen und sodann erneut über den Anspruch des Klägers zu entscheiden haben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil Vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657215

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