Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz beim Weg vom dritten Ort zur Arbeitsstätte

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Weg zur Arbeitsstätte muß nicht von der Wohnung aus beginnen, wie auch der Rückweg nicht dort enden muß. Der Weg muß aber - ebenso wie der Weg von der Wohnung - mit der versicherten Tätigkeit im ursächlichen Zusammenhang stehen. Dies ist dann der Fall, wenn der Weg vom dritten Ort unmittelbar zur Arbeitsstätte führen soll, auch wenn sich die Wegstrecke hierdurch - in dem zur Entscheidung stehenden Fall um nahezu 50 % - verlängert.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 20.10.1976; Aktenzeichen L 2 U 109/75)

SG München (Entscheidung vom 27.01.1975; Aktenzeichen S 23 U 996/74)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Oktober 1976 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. Januar 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägerinnen auch die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerinnen Anspruch auf Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung haben.

Der Rangierleiter Adolf P (P.) ist am 4. Juni 1974 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Die Klägerin zu 1) ist seine Witwe, die Klägerin zu 2) ein Kind der Eheleute; die Klägerin zu 3) ist eine Tochter der Klägerin zu 1) aus deren erster - geschiedener - Ehe und lebte im gemeinsamen Haushalt der Klägerin zu 1) und ihres Ehemannes. P. wohnte mit seiner Familie in N (Kreis A) und war in B bei der Firma W-Chemie-GmbH beschäftigt. Den Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte legte er mit einem Pkw zurück. Die Strecke über Eisching - Bergham - Bundesstraße (B) 12 - B 20 ist 15 km lang. Am 4. Juni 1974 sollte er von 13.00 Uhr bis 21.00 Uhr arbeiten. Vor dem Schichtbeginn fuhren P. und die Klägerinnen gemeinsam zur Mutter der Klägerin zu 1) nach J. Dort trafen sie gegen 9.45 Uhr ein. Die Klägerin wollte sich um ihre kränkliche Mutter kümmern und deren Haushalt versorgen. Nach dem gemeinsamen Mittagsessen, das die Klägerin zu 1) zubereitete, begab sich P. gegen 12.00 Uhr mit seinem Pkw auf den Weg zu seiner Arbeitsstätte. Er fuhr zur B 12 und wollte über M und die B 20 nach B fahren. Diese Strecke ist 22 km lang. Auf der B 12 stieß er (nach etwa 6 - 7 km Fahrt) in der Nähe von K mit einem ihm entgegenkommenden Lkw zusammen und wurde dabei getötet.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 26. September 1974 eine Entschädigung ab, da P. sich zur Unfallzeit auf dem Rückweg von einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit befunden habe und der Weg von der Wohnung seiner Schwiegermutter wesentlich länger als der normale Weg zur Arbeitsstätte gewesen sei.

Das Sozialgericht (SG) München hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, den Klägerinnen aus Anlaß des Todes des P. die gesetzlichen Leistungen (Sterbegeld, Überbrückungshilfe, Überführungskosten und Hinterbliebenenrenten) zu gewähren (Urteil vom 27. Januar 1975). Es ist der Auffassung, wegen des mehr als zweistündigen Aufenthalts des P. in J sei der von dort aus angetretene Weg zur Arbeitsstätte nicht als Rückweg von einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit, sondern als ein rechtlich selbständiger Weg zur Arbeitsstätte anzusehen. Der räumliche und zeitliche Unterschied des zurückgelegten Weges sei im Vergleich zu dem Weg von der eigenen Wohnung nicht so erheblich, daß das Vorhaben des P., sich zur Arbeitsstätte zu begeben, in den Hintergrund getreten wäre (BSGE 22, 60). P. habe daher unter Versicherungsschutz gestanden.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 20. Oktober 1976 dem Berufungsantrag der Beklagten entsprechend das Urteil des SG (teilweise) aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen, als die Beklagte zur Zahlung von Witwen- und Waisenrente verurteilt worden ist. Zur Begründung hat es ausgeführt: Auf einem nicht von der Wohnung aus angetretenen Weg zur Arbeitsstätte bestehe Versicherungsschutz nur, wenn dieser Weg mit der versicherten Tätigkeit in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang stehe und andererseits nicht wesentlich privaten Zwecken des Versicherten diene. An dem inneren Zusammenhang fehle es hier jedoch, weil der Weg, den P. am Unfalltag zu seiner Arbeitsstätte habe zurücklegen wollen, nach der Verkehrsanschauung mit einer Fahrstrecke von 22 km wegen seiner Länge und Dauer zu dem üblichen Weg von 15 km nicht in einem angemessenen Verhältnis gestanden habe. Hinzu komme, daß P. an einer Stelle verunglückt sei, die er zuvor von seiner eigenen Wohnung aus zu seiner Schwiegermutter zurückgelegt habe. Er habe sich daher zur Unfallzeit noch auf dem Rückweg von einem privaten Besuch bei seiner Schwiegermutter befunden und deshalb nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Die Wohnung seiner Schwiegermutter habe auch weder ganz noch teilweise zu seinem häuslichen Wirkungsbereich gehört, obwohl die Klägerin zu 1) mit ihren Kindern - zusammen mit P., wenn er Spätschicht gehabt habe - etwa jeden zweiten Tag nach dort gefahren sei, um sich um ihre Mutter zu kümmern und deren Haushalt zu versorgen. Dabei habe es sich um Besuchsfahrten gehandelt, durch die ein häuslicher Wirkungskreis für P. und seine Familie nicht begründet worden sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerinnen haben dieses Rechtsmittel eingelegt und tragen zur Begründung vor: P. habe den Weg, auf dem er verunglückte, nur zurückgelegt, um seine Arbeitsstätte zu erreichen. Für den Versicherungsschutz sei es unerheblich, daß er die Fahrt nicht von der eigenen Wohnung aus begonnen habe und die Fahrstrecke teilweise mit dem üblichen Weg identisch gewesen wäre. Es komme allein darauf an, ob der am Unfalltag eingeschlagene Weg zur Arbeitsstätte sich erheblich von dem üblichen Weg unterscheide. Die räumliche und zeitliche Verlängerung des Weges um weniger als 50 vH sei jedoch bei den hier gegebenen kurzen Unterschieden von 7 km und etwa 5 - 7 Minuten entgegen der Auffassung des LSG nicht erheblich.

Die Klägerinnen beantragen,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Die Klägerinnen haben Anspruch auf Witwen- und Waisenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung, wie schon das SG im Ergebnis zutreffend entschieden hat.

Die Berufung der Beklagten richtet sich nur gegen die Verurteilung zur Zahlung von Renten. Sie ist daher zulässig. Die gemäß § 144 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von der Berufung ausgeschlossenen Ansprüche auf Gewährung von Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Kosten der Überführung (§ 589 Abs 1 Nrn 1, 2 und 4, § 591 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) sind nicht mehr im Streit. Die Berufung der Beklagten ist entgegen der Auffassung des LSG nicht begründet.

Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. P. hat im Zeitpunkt des Unfalls nach dieser Vorschrift unter Versicherungsschutz gestanden. Er war mit einem Pkw unterwegs auf dem direkten Weg zu seiner Arbeitsstätte in B, um dort die Arbeit aufzunehmen. Allerdings hatte er die Fahrt nicht von seiner in N gelegenen Wohnung, sondern von der Wohnung seiner Schwiegermutter aus angetreten. Da in § 550 Abs 1 RVO jedoch allein der Ort der Tätigkeit - das ist in der Regel die Arbeitsstätte - als Ende des Hinweges oder als Ausgangspunkt des Rückweges festgelegt ist, muß der Hinweg nicht von der Wohnung aus beginnen, wie auch der Rückweg nicht dort enden muß (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG -; vgl auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl, S. 485 o ff mit Nachweisen auch aus dem Schrifttum). Auf dem Weg, der von einer anderen Stelle als der eigenen Wohnung des Versicherten aus begonnen wird, besteht zwar nicht schon deshalb Versicherungsschutz, weil der Weg zur Arbeitsstätte hinführt. Der Weg muß vielmehr ebenso wie der Weg von der Wohnung mit der versicherten Tätigkeit in ursächlichem Zusammenhang stehen. Daran fehlt es beispielsweise, wenn es sich bei dem Weg von der eigenen Wohnung des Versicherten zu einem anderen Ort und dem von dort angetretenen Weg zur Arbeitsstätte um einen rechtlich einheitlichen Gesamtweg handelt (Urteil des erkennenden Senats vom 29. Mai 1973 - 2 RU 147/72 - unveröffentlicht; s auch Brackmann aaO S. 485 q). So lagen die Verhältnisse hier aber nicht. Der mehr als zweistündige Aufenthalt des P. in der Wohnung seiner Schwiegermutter war hinsichtlich seiner Dauer so erheblich, daß der vorangegangene Weg von der eigenen Wohnung über S, wo die Klägerin zu 1) Geld von ihrem Bankkonto abhob, und weiter zur Schwiegermutter eine selbständige Bedeutung erlangt hatte und somit nicht in einem rechtlich erheblichen Zusammenhang mit der bevorstehenden Aufnahme der Arbeit an der Arbeitsstätte stand (vgl Brackmann aaO). Da der im Zeitpunkt des Unfalls von der Wohnung der Schwiegermutter aus begonnene und der weiter beabsichtigte Weg unmittelbar zur Arbeitsstätte führen sollte, ist er entgegen der Auffassung des LSG auch nicht lediglich als Rückweg vom Besuch der Schwiegermutter - einer dem Privatbereich zuzurechnenden Verrichtung - zu werten. P. wollte nach den unangegriffenen und deshalb für das BSG bindenden Feststellungen des LSG vor Arbeitsbeginn seine Wohnung, von der aus er am frühen Vormittag aufgebrochen war, nicht mehr aufsuchen. Seine Fahrt hätte ihn auch nicht an seiner Wohnung vorbei auch nur durch seinen Wohnort geführt. Daß die bis zum Unfall zurückgelegte Teilstrecke teilweise mit der am Vormittag über S zurückgelegten identisch war, kennzeichnet die Fahrt, deren Ziel die Arbeitsstätte war, nach der Lage des Falles nicht als Rückweg vom Besuch der Schwiegermutter.

Auf einem Weg, der nicht zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zurückgelegt wird, besteht allerdings kein Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO, wenn er sich wegen seiner Länge und Dauer von dem üblichen Weg nach der Arbeitsstätte so erheblich unterscheidet, daß er nicht von dem Vorhaben des Beschäftigten, sich zur Arbeit zu begeben, geprägt ist (BSGE 22, 60, 62). Wie auch das LSG zutreffend ausgeführt hat, muß der Weg nach dem Sinn und Zweck des § 550 Abs 1 RVO in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg des Beschäftigten nach dem Ort der Tätigkeit stehen (BSG aaO; Brackmann aaO S. 485 q ff mit weiteren Nachweisen). Unter welchen Voraussetzungen dies anzunehmen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Das LSG hat allein wegen der gegenüber dem üblichen Weg von 15 km um 7 km längeren Wegstrecke ein nach der Verkehrsanschauung unangemessenes Verhältnis im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung angenommen. Der erkennende Senat ist demgegenüber der Auffassung, daß nach der Lage dieses Falles der 22 km lange Weg, den P. am Unfalltag zur Arbeitsstätte zurücklegen wollte, hinsichtlich seiner Länge und Dauer noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg stand. Wenn auch der Weg um fast die Hälfte länger war, ist doch andererseits zu berücksichtigen, daß seine Zurücklegung mit einem Pkw - nahezu ausschließlich auf Bundesstraßen - einen nur nach wenigen Minuten rechnenden zeitlichen Mehraufwand erforderte. Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges der unmittelbar zur Arbeitsstätte führen sollte, und der versicherten Tätigkeit war hiernach, wie schon das SG angenommen hat, trotz der längeren Fahrstrecke gegeben.

Auf die Revision der Klägerinnen ist daher die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655708

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