Entscheidungsstichwort (Thema)

Schadensminderungspflicht in der Kriegsopferversorgung. Bagatellschaden

 

Leitsatz (amtlich)

Hat der Beschädigte seine Arbeitskraft ohne verständigen Grund nicht in einem zumutbaren Umfang eingesetzt und deswegen eine entsprechende Tätigkeit nicht ausgeübt, steht seiner Witwe Witwenbeihilfe nicht zu.

 

Orientierungssatz

1. Die aus der in der Zivilrechtsprechung und - Literatur zum Schadensersatzrecht aus § 254 Abs 2 BGB abgeleitete Schadensminderungspflicht gilt im gesamten Sozialrecht und insbesondere auch im Recht der Kriegsopferversorgung. Danach obliegt es jedem Anspruchsberechtigten, einen Schaden durch eigenes Handeln möglichst gering zu halten (vgl BSG vom 8.7.1980 9 RV 20/79 = SozR 3100 § 30 Nr 48 mwN). Dieser Grundsatz ist auf den nach § 48 Abs 1 S 1 entschädigungspflichtigen Schaden uneingeschränkt übertragbar. Die Hinterbliebenen müssen es sich zurechnen lassen, daß nicht schädigungsbedingte, allein in der Person des Beschädigten liegende Gründe zu einer Minderversorgung geführt haben. Nach dem in § 1 Abs 1 BVG normierten Entschädigungsprinzip sind nur die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auszugleichen, nicht aber davon unabhängig eingetretene Nachteile.

2. Nicht jegliche Einkommenseinbuße gebietet unabhängig von der Höhe der Hinterbliebenenversorgung einen wirtschaftlichen Ausgleich. Vielmehr setzt die Entschädigungspflicht entsprechend dem Grundprinzip des Versorgungsrechts dort ein, wo eine Lücke in den zur Bestreitung des angemessenen Lebensunterhalts verfügbaren Mitteln eingetreten ist. Der durch die Schädigungsfolgen eingetretene Verlust muß den Lebenszuschnitt der Hinterbliebenen deutlich fühlbar herabdrücken (vgl BSG vom 16.3.1982 9a/9 RV 28/81 = BSGE 53, 169, 173). Davon kann nicht mehr die Rede sein, wenn die ohne die schädigungsbedingte Rentenminderung erzielbaren Hinterbliebenenbezüge nicht mehr ausreichen würden, um auch nur annähernd das Existenzminimum zu sichern. Ein solcher Bagatellschaden wäre mit der entschädigungsrechtlichen Ausgestaltung des § 48 BVG unvereinbar.

 

Normenkette

BVG § 48 Abs 1 S 1 Fassung: 1975-12-18, § 1 Abs 1; BGB § 254 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 27.09.1983; Aktenzeichen L 4 V 59/83)

SG Koblenz (Entscheidung vom 10.03.1983; Aktenzeichen S 8 V 126/81)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Witwenbeihilfe gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der im Juli 1925 geborene Ehemann der Klägerin (Beschädigter) ist im März 1981 an einem schädigungsunabhängigen Leiden verstorben. Er bezog bis zu seinem Tode Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH wegen nachstehender Schädigungsfolgen: "Verlust des linken Unterschenkels im mittleren Drittel; Arthrosis deformans des linken Kniegelenks (starken Grades) mit leichter Streckhemmung."

Der Beschädigte erlernte keinen Beruf. Er war vor seiner Einberufung zum Reichsarbeitsdienst bzw zur Wehrmacht von 1940 bis 1942 als Bote und Hilfsarbeiter sowie zeitweise als Filmvorführer beschäftigt. Nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Oktober 1946 war er bis 1960 ohne Arbeit. Nach Mitteilung des Arbeitsamtes scheiterte eine Arbeitsvermittlung aus in seiner Person liegenden Gründen. Von 1960 bis 1967 war er dreimal wöchentlich als Hausmeister und danach bis 1974 als Fensterputzer, Platzanweiser und Packer tätig. Anschließend war er arbeitslos, wobei die Arbeitslosenhilfe mit Wirkung vom Juli 1977 zeitweise wegen fehlender Verfügbarkeit eingestellt wurde. Vom 14. August 1979 an bezog der Beschädigte zunächst Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit, die sodann in eine unbefristete Rentenleistung umgewandelt wurde.

Die Klägerin bezieht ab 1. Juli 1981 eine Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung in Höhe von 132,70 DM monatlich. Bei der Rentenberechnung wurden ua Beitragszeiten von 157 Monaten und Ersatzzeiten von 55 Monaten (das sind 17,67 Versicherungsjahre) sowie eine persönliche Rentenbemessungsgrundlage von 43,92 vH berücksichtigt.

Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Witwenbeihilfe lehnte die Versorgungsverwaltung ab (Bescheid vom 9. Juni 1981).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten zur Gewährung von Witwenbeihilfe ab 1. April 1981 verurteilt. Es hat zur Begründung ua ausgeführt: Die beim Beschädigten ab Februar 1979 bestehende Erwerbsunfähigkeit sei wesentlich durch die anerkannten Schädigungsfolgen mitverursacht. Diese etwa zwei Jahre vor seinem Tode eingetretene Erwerbsunfähigkeit habe zu einer nicht unerheblichen Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung geführt. Denn bei der geringen Hinterbliebenenrente falle jede auch noch so geringfügige Minderung der Hinterbliebenenversorgung ins Gewicht. Deshalb könne dahingestellt bleiben, ob die Arbeitslosigkeit des Beschädigten in der Nachkriegszeit überwiegend auf schädigungsunabhängigen Ursachen beruhe und ob gegebenenfalls dadurch eine Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung eingetreten sei.

Der Beklagte hat die - vom Senat zugelassene - Revision eingelegt. Er macht eine Abweichung von einem Urteil des Senats (BSGE 53, 169, 172 f = SozR § 48 Nr 8) geltend. Das LSG habe zwar - meint der Beklagte - eine Rentenminderung angenommen, diese aber nicht betragsmäßig festgestellt. Die langjährige Arbeitslosigkeit nach dem Kriege habe schädigungsunabhängig bestanden. Darauf beruhe die geringe Hinterbliebenenversorgung der Klägerin. Außerdem sei der Beschädigte schon vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit arbeitslos gewesen, weshalb die Zeit des Bezugs von Erwerbsunfähigkeitsrente ebenfalls nicht den Schädigungsfolgen zuzurechnen sei.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamtes Koblenz vom 9. Juni 1981 abzuweisen; hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten hat insoweit Erfolg, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil weicht von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in BSGE 53, 169, 172 f = SozR 3100 § 48 Nr 8 ab und beruht auch darauf (§ 162 iVm § 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Das Urteil des LSG stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Es bedarf einer weiteren Sachaufklärung, um abschließend über das Streitverhältnis befinden zu können.

Nach Meinung des Berufungsgerichts wirkt sich bei einer geringen monatlichen Rente, wie sie die Klägerin in Höhe von 132,70 DM bezieht, jede auch noch so geringfügige Minderung ihrer Hinterbliebenenversorgung durch den vorzeitigen Eintritt der Erwerbsunfähigkeit in dem Sinne aus, daß damit eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung anzunehmen sei. Damit hat es, ohne die schädigungsbedingt eingetretene Rentenminderung ziffernmäßig festzulegen, eine pauschale Wertung vorgenommen. Demgegenüber hat der erkennende Senat in der obengenannten Entscheidung auf den Einzelfall abgehoben und die Feststellung einer betragsmäßigen Einbuße der Hinterbliebenenversorgung verlangt. In diesem Urteil ist ua ausgeführt, daß die Lücke zwischen der tatsächlichen Versorgung und der wahrscheinlichen im Einzelfall unter Berücksichtigung der Höhe der gesamten Versorgung betrachtet werden müsse. Ein bestimmter Prozentsatz von einem hohen Hinterbliebeneneinkommen könne trotz üppiger Betragsgröße für die Versorgung der Witwe eine nicht spürbare Minderung bedeuten, während derselbe Prozentsatz bei einer nahe dem Existenzminimum liegenden Versorgung nachhaltige Einschränkungen in der Lebensführung erforderlich mache. Bei einer geringen Versorgung müsse man sowohl den nominellen Betrag als auch die Relation kleiner ansetzen, als bei mittleren oder gar höheren Hinterbliebeneneinkünften.

Aus dieser Rechtsprechung ist zu entnehmen, daß es bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung" nicht zulässig ist, von der Bestimmung des Prozentsatzes abzusehen. In Fortsetzung seiner Rechtsprechung hat der Senat die im Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 16. März 1984 (BABl 1984, Nr 5, S 63) herausgegebenen Richtwerte, die entsprechend der Höhe der Witwenrente nach unterschiedlichen Prozentsätzen die rechtlich relevante Einkommenseinbuße bestimmen, als im allgemeinen brauchbare Entscheidungsgrundlage befunden (SozR 3100 § 48 Nr 10). Die durch das Vierzehnte Anpassungsgesetz-KOV vom 4. Juni 1985 (BGBl I 910) geschaffene Neufassung des § 48 Abs 1 BVG hat dem mit Wirkung ab 1. Juli 1985 (§ 48 Abs 3 BVG) Rechnung getragen; sie stellt allein auf eine prozentuale Einkommensminderung zwischen 15 und 10 vH ab. Infolgedessen ist nicht auszuschließen, daß bei einer prozentualen Festlegung der schädigungsbedingten Einkommensminderung - die Annahme des LSG als zutreffend vorausgesetzt - von einem nicht mehr berücksichtigungsfähigen Einkommensschaden auszugehen wäre. Auch ein späteres Gesetz, das einen unbestimmten Rechtsbegriff erläutert oder durch bestimmte Begriffe ersetzt, kann für die Auslegung jedenfalls entscheidende Hinweise geben (vgl BSG SozR 2200 § 355 Nr 1).

Nach § 48 Abs 1 BVG idF des Art 2 § 1 Nr 5 des Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur im Geltungsbereich des Arbeitsförderungsgesetzes und des Bundesversorgungsgesetzes vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113) - HStruktG-AFG - (Art 2 § 2 Abs 3, Art 5 § 1) ist einer Witwe Beihilfe zu gewähren, wenn der nicht an den Folgen einer Schädigung gestorbene Schwerbeschädigte durch die Folgen der Schädigung gehindert war, eine entsprechende Erwerbstätigkeit in vollem Umfang auszuüben und dadurch die Versorgung seiner Hinterbliebenen nicht unerheblich beeinträchtigt worden ist. Die Erwerbstätigkeit, für die der Verstorbene schädigungsbedingt behindert gewesen sein muß, bezieht sich auf den ohne die Schädigungsfolgen wahrscheinlich eingeschlagenen Berufsweg (Urteil des erkennenden Senats SozR § 48 Nr 4). Dieser ist mit der tatsächlich verrichteten Tätigkeit des Beschädigten zu vergleichen, um dadurch zur Feststellung des Schadens zu gelangen. Die vom Gesetz vorgegebene Schadensermittlung läßt es entgegen dem Berufungsgericht nicht zu, die Frage offen zu lassen, ob die immerhin viele Jahre dauernde Arbeitslosigkeit des Beschädigten nach dem Kriege auf schädigungsbedingten Ursachen beruhte und ob dadurch eine Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung eingetreten ist.

Die Wortfassung des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG "und dadurch die Versorgung seiner Hinterbliebenen nicht unerheblich beeinträchtigt worden ist" verdeutlicht, daß die "entsprechende Erwerbstätigkeit", zu der der Beschädigte infolge der Schädigungsfolgen nicht mehr in der Lage ist, wirtschaftlich zu verstehen ist (BSG SozR 3100 § 48 Nr 6). Versorgung wird nach § 48 BVG deswegen zugestanden, weil der Beschädigte nicht mehr imstande war, so ausreichend für seine Hinterbliebenen zu sorgen, wie dies ohne die Schädigungsfolgen der Fall gewesen wäre. Die finanzielle Lage der Hinterbliebenen muß also durch das schädigungsbedingt verminderte Einkommen nachteilig beeinflußt worden sein. Diese notwendige Kausalität zwischen Schädigungsfolgen und dem bei den Hinterbliebenen eintretenden Schaden ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut ... und dadurch ... des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG (Urteil des erkennenden Senats vom 17. Dezember 1983 - 9a RV 46/82 -). Demzufolge ist die "entsprechende Erwerbstätigkeit" im Zusammenhang mit einem sich etwa ergebenden Unterschied in der Versorgung der Hinterbliebenen zu prüfen (Urteile des erkennenden Senats vom 10. August 1983 - 9a RV 23/82 - und vom 17. Dezember 1983 aaO).

Sollten die noch vom LSG anzustellenden Ermittlungen ergeben, daß der Beschädigte, der keinen Beruf erlernt hatte, durch die Schädigungsfolgen nicht gehindert war, ungelernte Tätigkeiten im "vollen Umfang" zu verrichten, ist ein schädigungsbedingter wirtschaftlicher Schaden in der Hinterbliebenenversorgung zu verneinen. Unter diesen Gegebenheiten hätte es auf die Frage der Erwerbsunfähigkeit und der - wohl noch medizinisch abzuklärenden schädigungsbedingten Mitverursachung - nicht mehr anzukommen. Auch ohne die genannte Erwerbsbeschränkung hätte sich dann die aus persönlichen Gründen verschuldete Arbeitslosigkeit fortgesetzt und aufgrund dessen ebenfalls nicht zu einer den Schädigungsfolgen zurechenbaren wirtschaftlichen Schädigung geführt.

Der nach § 48 Abs 1 Satz 1 BVG entschädigungspflichtige Schaden ist davon abhängig, daß der Beschädigte eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit ausübt. Tut er dies nicht, setzt er also seine Arbeitskraft ohne verständlichen Grund nicht in einem zumutbaren Umfang ein, bleibt der dadurch eingetretene Schaden unberücksichtigt. Das folgt bereits aus der in der Zivilrechtsprechung und -literatur zum Schadensersatzrecht aus § 254 Abs 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) abgeleiteten Schadensminderungspflicht. Dieser Rechtsgedanke gilt im gesamten Sozialrecht und insbesondere auch im Recht der KOV. Danach obliegt es jedem Anspruchsberechtigten, einen Schaden durch eigenes Handeln möglichst gering zu halten (Urteil des erkennenden Senats: SozR 3100 § 30 Nr 48 mwN). Dieser Grundsatz ist im vorliegenden Fall uneingeschränkt übertragbar. Die Hinterbliebenen müssen es sich zurechnen lassen, daß nicht schädigungsbedingte, allein in der Person des Beschädigten liegende Gründe zu einer Minderversorgung geführt haben. Nach dem in § 1 Abs 1 BVG normierten Entschädigungsprinzip sind nur die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auszugleichen, nicht aber davon unabhängig eingetretene Nachteile. Auch in § 48 BVG ist am Entschädigungscharakter festgehalten worden (Urteil des Senats vom 17. Dezember 1983 aaO).

Im übrigen gebietet nicht jegliche Einkommenseinbuße unabhängig von der Höhe der Hinterbliebenenversorgung einen wirtschaftlichen Ausgleich. Vielmehr setzt die Entschädigungspflicht entsprechend dem Grundprinzip des Versorgungsrechts dort ein, wo eine Lücke in den zur Bestreitung des angemessenen Lebensunterhalts verfügbaren Mitteln eingetreten ist. Der durch die Schädigungsfolgen eingetretene Verlust muß den Lebenszuschnitt der Hinterbliebenen deutlich fühlbar herabdrücken (BSGE 53, 169, 173). Davon kann nicht mehr die Rede sein, wenn die ohne die schädigungsbedingte Rentenminderung erzielbaren Hinterbliebenenbezüge nicht mehr ausreichen würden, um auch nur annähernd das Existenzminimum zu sichern. Ein solcher Bagatellschaden wäre ebenfalls mit der entschädigungsrechtlichen Ausgestaltung des § 48 BVG unvereinbar.

Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656754

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