Leitsatz (amtlich)

Einem Versicherten, der im Hauptberuf Hauer war, ist die Verrichtung der Tätigkeiten eines Stellwerkwärters, Tafelführers und Verwiegers (Lohngruppe 3 über Tage der Lohnordnung für die Steinkohlenbergwerke der Ruhr) jedenfalls dann zumutbar im Sinne des RKG § 46, wenn es sich um einen Hauer ohne abgeschlossene Lehre handelt.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; KnRVNV § 5; KnRVNV 1942 § 5; RVO § 1254 Fassung: 1934-05-17

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. Juli 1958 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der im Jahre 1904 geborene Kläger war im Steinkohlenbergbau der Ruhr von 1917 bis 1922 als Schlepper im Schichtlohn, anschließend bis 1930 als Gedingeschlepper und Lehrhauer und von 1936 bis April 1945 als Hauer beschäftigt. Danach war er nur noch außerhalb des Bergbaues tätig, und zwar einige Monate im Polizeidienst und bis Ende 1953 als Montagearbeiter und Wächter sowie im Sommer 1955 noch einige Wochen als Gartenarbeiter. Seit dem 1. März 1949 bezieht er die Knappschaftsrente nach § 35 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) a. F.

Am 21. April 1953 beantragte der Kläger die Gewährung der Knappschaftsvollrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 15. Juli 1953 mit der Begründung ab, daß er noch nicht invalide sei. Der gegen diesen Bescheid erhobene Einspruch blieb ebenso erfolglos wie die Klage.

Die gegen das Urteil des Sozialgerichts in Düsseldorf vom 3. November 1955 eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht durch Urteil vom 1. Juli 1958 zurück. Der Kläger sei im Hauptberuf Hauer. Er könne u. a. noch die Tätigkeiten eines Tafelführers, Stellwerkswärters und Verwiegers (Lohngruppe III über Tage der Lohnordnung für den Steinkohlenbergbau der Ruhr) sowie die eines Markenausgebers, Telefonisten (Lohngruppe IV über Tage) und die eines Wächters und Pförtners (Lohngruppe V über Tage) verrichten, so daß für die Zeit bis zum Inkrafttreten des Knappschaftsrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (KnVNG) Invalidität nicht vorliege. Für die anschließende Zeit liege Berufsunfähigkeit nach § 46 RKG ebenfalls nicht vor, weil der Kläger jedenfalls mit den genannten Tätigkeiten der Lohngruppe III über Tage, deren Ausübung einem Hauer noch zumutbar sei, noch 50 v. H. und mehr des Hauerdurchschnittslohnes zu verdienen in der Lage sei.

Gegen dieses ihm am 27. Dezember 1958 zugestellte Urteil hat der Kläger durch seine Prozeßbevollmächtigten, Rechtsanwälte Dr. Dr. H und Dr. P mit Schriftsatz vom 20. Januar 1959, eingegangen am 21. Januar 1959, Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 23. Februar 1959 am 23. Februar 1959 begründet. Er rügt die Verletzung des § 46 RKG. Einem Hauer sei es unter Berücksichtigung seines Berufs und des Umfangs und der Dauer seiner Ausbildung nicht zuzumuten, noch Tätigkeiten der Lohngruppe III über Tage zu verrichten. Er hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 1. Juli 1958, des Urteils des Sozialgerichts in Düsseldorf vom 3. November 1955, des Widerspruchsbescheids der Beklagten vom 13. März 1954 und des Bescheids der Beklagten vom 15. Juli 1953 zu verurteilen, ihm die Gesamtrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung und der Invalidenversicherung zu gewähren und die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen zurückzuverweisen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Revision kostenfällig zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, daß einem Hauer die Verrichtung von Tätigkeiten der Lohngruppe III über Tage noch zumutbar im Sinne des § 46 RKG sei, weil dieser damit noch mehr als die Hälfte des tariflichen Hauerdurchschnittlohnes verdienen könne und diese Tätigkeiten seinem beruflichen Werdegang entsprächen. Hauer müßten durchweg in einem Alter von 50 Jahren oder auch schon früher ihre Tätigkeit aufgeben; sie gingen dann in aller Regel zu leichteren Tätigkeiten über. Diese gehörten daher zum Berufsleben des Hauers.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, da das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht. Es mußte ihr jedoch der Erfolg versagt bleiben.

Der Kläger begehrt - so ist sein Vorbringen von der Beklagten und den Vorinstanzen zu Recht aufgefaßt worden (vgl. dazu AN 1936 S. 331) - die Gewährung der Gesamtleistung aus der knappschaftlichen Rentenversicherung und der Invalidenversicherung, für deren Feststellung und Zahlung die Beklagte zuständig ist. Dieser Anspruch steht ihm jedoch, wie das Berufungsgericht ohne Rechtsirrtum entschieden hat, nicht zu. Zu Recht hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung noch den Invaliditätsbegriff (§ 5 der VO. über die Neuregelung der Rentenversicherung im Bergbau vom 4.10.1942, § 1254 RVO a. F.) zugrunde gelegt, da der Versicherungsfall, wenn die Behauptungen des Klägers zuträfen, noch unter der Herrschaft des bis zum Ablauf des Jahres 1956 geltenden Rechts eingetreten wäre. Art. 2 § 4 Abs. 1 KnVNG vom 21. Mai 1957 (BGBl. I S. 533) und Art. 2 § 6 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 45) finden nach Art. 2 § 32 KnVNG und Art. 2 § 44 ArVNG keine Anwendung, weil die Sache beim Inkrafttreten dieser Vorschriften bereits vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebte (vgl. dazu SozR. ArVNG Art. 2 § 44 Aa 1 Nr. 3). Da der Kläger nach der nicht angegriffenen Feststellung des Landessozialgerichts, an welche der Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden ist, noch eine Reihe von Tätigkeiten der Lohngruppen III, IV und V über Tage verrichten kann, durfte das Berufungsgericht ohne Bedenken zu dem Ergebnis kommen, daß er nicht invalide ist, weil er noch in der Lage ist, die nach § 5 der VO. vom 4. Oktober 1942, § 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. maßgebliche Lohnhälfte zu verdienen, wie er nunmehr wohl auch selbst nicht mehr bezweifelt, da er nur noch die Verletzung des § 46 RKG rügt.

Es war allerdings, da ein Rentenanspruch nach altem Recht nicht gegeben ist, weiter zu prüfen, ob dem Kläger nicht für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 ein Anspruch nach dem ab 1. Januar 1957 geltenden Recht zusteht. Dies würde der Fall sein, wenn er berufsunfähig nach §§ 46 Abs. 2 RKG, 1246 Abs. 2 RVO wäre. Da er nach seinem Gesundheitszustand noch in der Lage ist, eine Reihe von Tätigkeiten der Lohngruppen III bis V über Tage zu verrichten, ohne daß er dadurch nach seinen Kräften und Fähigkeiten als überfordert angesehen werden könnte, müßte angenommen werden, daß seine Erwerbsfähigkeit nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist, wenn ihm nur die Verrichtung dieser Tätigkeiten zugemutet werden kann (vgl. BSG. 9 S. 254). Es bedarf hier keiner Untersuchung, ob dies hinsichtlich der Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V über Tage der Fall ist, es genügt vielmehr die Prüfung, ob einem Versicherten, der im Hauptberuf Hauer ist, die Verrichtung der Tätigkeiten eines Verwiegers, Tafelführers und Stellwerkswärters (Lohngruppe III über Tage) zuzumuten ist. Die Verrichtung einer Tätigkeit ist einem Versicherten dann im Sinne der §§ 46 Abs. 2 RKG, 1246 Abs. 2 RVO zuzumuten, wenn dies für ihn unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs keinen wesentlichen sozialen Abstieg bedeutet. Bei den eigentlich bergmännischen Tätigkeiten darf bei dieser Prüfung nicht außer Acht gelassen werden, daß der Bergmannsberuf als eine Einheit angesehen wird. Jeder Wechsel von einer eigentlich bergmännischen Tätigkeit zu einer anderen eigentlich bergmännischen Tätigkeit kann daher grundsätzlich nicht als wesentlicher sozialer Abstieg in diesem Sinne angesehen werden. Dies gilt auch für den Hauer, wenn er auch innerhalb des Bergmannsberufs die Spitzenstellung einnimmt. Zu dem Bergmannsberuf zählen allerdings nur die Tätigkeiten der Gewinnung und Förderung der Kohle bezw. des Minerals, nicht aber z. B. diejenigen Übertagetätigkeiten, welche nur mittelbar der Gewinnung und Förderung dienen und ebenso in anderen als Bergbaubetrieben vorkommen, also auch nicht die Tätigkeiten des Verwiegers, Stellwerkswärters und Tafelführers. Mit dieser Feststellung ist aber nicht gesagt, daß eine Verweisung derjenigen Versicherten, welche eigentliche bergmännische Arbeiten verrichtet haben, über diesen Kreis hinaus überhaupt nicht möglich sei. Es kann, da § 46 Abs. 2 RKG und § 1246 Abs. 2 RVO wörtlich übereinstimmen, für den Bergmann insoweit nichts anderes gelten als für den in der Rentenversicherung der Arbeiter Versicherten. Er muß sich also darüberhinaus in demselben Umfang wie dieser auch auf sonstige Tätigkeiten verweisen lassen. War der Versicherte also z. B. nur Schlepper im Schichtlohn, so ist ihm die Verrichtung auch solcher ungelernter oder nur kurzfristig angelernter Tätigkeiten über Tage zuzumuten, welche nicht zu den eigentlich bergmännischen Tätigkeiten zählen, da hierin kein wesentlicher sozialer Abstieg zu erblicken ist. Bei dem Hauer allerdings bestehen ebenso wie bei dem gelernten Facharbeiter in der Regel Bedenken, ihn auf ungelernte oder nur kurzfristig angelernte Arbeiten zu verweisen, wenn es sich nicht um Arbeiten handelt, die in ihrer sozialen Wertung ausnahmsweise aus dem Kreis der ungelernten oder kurzfristig angelernten Tätigkeiten hervorragen; denn § 46 Abs. 2 RKG fordert ebenso wie § 1246 Abs. 2 RVO ausdrücklich die Berücksichtigung der Art und des Umfangs der Ausbildung des Versicherten. Der Kläger hat keine eigentliche berufliche Ausbildung, wie sie heute in der Regel für den Hauer vorgesehen ist, erfahren, sondern die früher übliche betriebliche Entwicklung vom Schlepper im Schichtlohn zum Hauer durchlaufen. Ob ein Hauer mit abgeschlossener Lehre noch auf diese Tätigkeiten verwiesen werden kann, kann dahingestellt bleiben, jedenfalls muß sich ein Hauer, der lediglich die früher übliche betriebliche Entwicklung zum Hauer durchlaufen hat, auf die Arbeiten eines Verwiegers, Tafelführers und Stellwerkswärters, die immerhin ein gesteigertes Verantwortungsbewußtsein voraussetzen und daher insofern nicht mit der Mehrzahl der sonstigen ungelernten Hilfstätigkeiten über Tage gleichgestellt werden können, verweisen lassen.

Da der Kläger nach seinem Ausscheiden aus dem Bergbau nur noch als ungelernter Arbeiter invalidenversicherungspflichtig beschäftigt war, bestehen auch bei Anwendung des § 1246 Abs. 2 RVO keine Bedenken, ihn auf die Arbeit eines Wächters zu verweisen. Dem Kläger steht somit ein Anspruch auf Rente nach §§ 46 RKG, 1246 RVO ebenfalls nicht zu, so daß die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden mußte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 206

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