Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung der Jahresarbeitsverdienstgrenze in der Angestelltenversicherung

 

Leitsatz (amtlich)

AVAVG § 56 Abs 3 ist nicht durch FinÄndG 1967 (BGBl 1, 1259) Art 1 § 2 Nr 1 gegenstandslos geworden, sondern galt bis zum 1969-06-30 weiter.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Es ist nicht anzunehmen, daß die Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung mit der Aufhebung der Jahresarbeitsverdienstgrenze in der Angestelltenversicherung entfallen ist.

2. Leitende Angestellte iS des AVAVG § 56 Abs 3 blieben auch nach dem 1968-01-01 jedenfalls dann weiterhin arbeitslosenversicherungsfrei, wenn ihr regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst den Betrag von 21600 DM überschritt.

 

Normenkette

AVAVG § 56 Abs. 3; FinÄndG 1967 Art. 1 § 2 Nr. 1 Fassung: 1967-12-21

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Februar 1970 aufgehoben.

Die Berufungen der beklagten Krankenkasse und der beigeladenen Bundesanstalt für Arbeit gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 20. Februar 1969 werden zurückgewiesen, soweit es die Zeit vom 1. Januar 1968 bis 30. Juni 1969 betrifft.

Die Beklagte und die beigeladene Bundesanstalt für Arbeit haben der Klägerin und den Beigeladenen zu 2) bis 6) die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die bei der Klägerin als leitende Angestellte (mit Prokura) beschäftigten Beigeladenen zu 2) bis 6) in der Zeit vom 1. Januar 1968 bis 30. Juni 1969 der Arbeitslosenversicherungspflicht unterlegen haben.

Die Klägerin meldete sie bei der Beklagten ab 1. Januar 1968 in Beitragsgruppe L (Angestelltenversicherung) an. Die Beklagte forderte unter Hinweis darauf, daß durch das - am 1. Januar 1968 in Kraft getretene - Finanzänderungsgesetz (FinÄndG) vom 21. Dezember 1967 (BGBl I 1259) § 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) gestrichen und deshalb § 56 Abs. 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) gegenstandslos geworden sei, die Klägerin mit Bescheid vom 22. Januar 1968 zur Zahlung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für diese Beigeladenen auf.

Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Nach § 56 Abs. 3 AVAVG in der seit 1. Januar 1967 geltenden Fassung seien die hier genannten Personen nur dann nicht als Arbeitnehmer anzusehen, wenn ihr regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst (JAV) den in § 5 AVG festgesetzten Betrag von seinerzeit 21600 DM überschreite. Diese gesetzliche Vermutung sei davon abhängig, daß die Bedingung des Überschreitens der JAV-Grenze erfüllt sei. Der Wegfall der Vorschrift des § 5 AVG habe zwangsläufig zur Folge, daß der Personenkreis der leitenden Angestellten ohne Rücksicht auf die Höhe ihres regelmäßigen JAV als Arbeitnehmer wieder versicherungspflichtig geworden sei. Mit der Streichung des § 5 AVG sei der gesamte § 56 Abs. 3 AVAVG gegenstandslos geworden, weil die in der Bezugnahme auf § 5 AVG enthaltene Voraussetzung der Versicherungsfreiheit entfallen sei. Die anscheinend nur aus Zeitmangel unterbliebene Streichung des § 56 Abs. 3 AVAVG hätte nur zur Klarstellung der Rechtslage gedient, hätte aber nicht den Willen des Gesetzgebers erkennen lassen, daß diese Bestimmung noch in ihrem ersten Teil angewendet werden sollte. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie trägt vor: Der § 56 AVAVG mache in Abs. 3 eine Ausnahme von der Versicherungspflicht für leitende Angestellte und Prokuristen, wenn ihr Einkommen eine bestimmte Höhe erreicht habe. Die Einkommensgrenze werde durch die Bezugnahme auf ein anderes Gesetz, das AVG, bestimmt. Nachdem die Einkommensgrenze in diesem Gesetz aufgehoben worden sei, ohne daß § 56 Abs. 3 AVAVG gestrichen worden sei, sei die Ausnahme von der Versicherungspflicht nur noch an die Voraussetzung geknüpft, daß es sich um Prokuristen oder um leitende Angestellte handele. Die Verweisung in § 56 Abs. 3 AVAVG auf die JAV-Grenze in der Angestelltenversicherung (AnV) habe nur den Zweck gehabt, die Abgrenzung der leitenden von den nichtleitenden Angestellten pauschal zu erleichtern, indem solche Personen, die unter der JAV-Grenze gelegen hätten, grundsätzlich als nichtleitende Angestellte anzusehen seien. Diese erleichterte Abgrenzungsmöglichkeit sei durch die Streichung der JAV-Grenze beseitigt worden. An dem Grundsatz der Begünstigung leitender Angestellter in der Arbeitslosenversicherung habe sich jedoch dadurch nichts geändert. Zweck der Arbeitslosenversicherung sei es, Arbeitnehmer gegen die Gefahren der Arbeitslosigkeit zu schützen. Leitende Angestellte seien aber nicht in gleicher Weise von der Arbeitslosigkeit bedroht wie andere Arbeitnehmer. Dagegen sei es Zweck der AnV, die Arbeitnehmer für den Fall der Invalidität und des Alters sicherzustellen. Dieses Schutzbedürfnis sei bei leitenden Angestellten ebenso groß wie das der übrigen Arbeitnehmer.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 20. Februar 1970 aufzuheben und die Berufungen der Beklagten und der beigeladenen Bundesanstalt für Arbeit gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 20. Februar 1969 zurückzuweisen, soweit es die Zeit vom 1. Januar 1968 bis 30. Juni 1969 betrifft.

Die beigeladene Bundesanstalt für Arbeit beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag. Die Beigeladenen zu 2) bis 6) sind vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.

Alle Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist begründet.

Nach § 56 Abs. 1 und 2 AVAVG waren die hier genannten Arbeitnehmer pflichtversichert in der Arbeitslosenversicherung. Nach dem mit Wirkung vom 1. Januar 1967 durch Art. 7 § 1 Abs. 1 b des Finanzplanungsgesetzes vom 23. Dezember 1966 (BGBl I 697) eingefügten Abs. 3 galten als Arbeitnehmer im Sinne der Absätze 1 und 2 nicht...leitende Angestellte, denen Generalvollmacht oder Prokura erteilt war oder die berechtigt waren, Arbeitnehmer selbständig einzustellen oder zu entlassen, sofern ihr regelmäßiger JAV den Betrag überschritt, der als JAV in § 5 AVG festgesetzt war. Nach dieser Vorschrift genügte es zur Versicherungsfreiheit nicht, daß die Betreffenden leitende Angestellte usw. waren. Es mußte vielmehr noch hinzukommen, daß die JAV-Grenze des § 5 AVG überschritten war.

Diese Bezugnahme auf die JAV-Grenze hatte den Zweck, den Kreis der aus der Versicherungspflicht herausgenommenen "leitenden Angestellten" genauer abzugrenzen, offenbar aus der Erwägung heraus, daß die Position eines leitenden Angestellten regelmäßig mit einem höheren Einkommen verbunden ist. Um dafür eine der jeweiligen Einkommensentwicklung angepasste Grenze zu finden, hat man die JAV-Grenze der Angestellten-Versicherung genommen, weil diese jeweils der wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt wird. Man wollte sie als "Grenzlinie" zwischen den "gewöhnlichen" und den "leitenden" Angestellten ansehen.

Durch Art. 1 § 2 Nr. 1 des am 1. Januar 1968 in Kraft getretenen FinÄndG 1967 (BGBl I, 1259) ist ua § 5 AVG gestrichen worden. Dadurch sind die Angestellten ohne Rücksicht auf die Höhe ihres regelmäßigen JAV angestelltenversicherungspflichtig geworden. Eine Aufhebung des § 56 Abs. 3 AVAVG ist in diesem Zusammenhang nicht erfolgt. Man muß daher grundsätzlich davon ausgehen, daß die Vorschrift noch weiter galt. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn sich dies aus anderen Vorschriften ausdrücklich oder sinngemäß ergäbe. Hierfür liegen jedoch keine Anhaltspunkte vor.

Die Arbeitslosenversicherungsfreiheit hing nach § 56 Abs. 3 AVAVG nicht von der Angestelltenversicherungsfreiheit ab, vielmehr war sie lediglich - neben den hier aufgeführten Tätigkeitsmerkmalen - auch von der Höhe der JAV-Grenze in der AnV abhängig. Ein Wegfall der Versicherungsfreiheit in der AnV hat daher nicht notwendigerweise die in der Arbeitslosenversicherung zur Folge; denn beide Versicherungspflichten setzen verschiedene Risiken voraus. Während früher die Arbeitslosenversicherungspflicht dann nicht mehr bestand, wenn keine Angestelltenversicherungspflicht gegeben war, ist später die Arbeitslosenversicherungspflicht auch auf solche Angestellte erstreckt worden, die wegen einer Erhöhung der JAV-Grenze versicherungspflichtig geworden waren, aber auf ihren Antrag wegen einer Lebensversicherung von der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung befreit waren (vgl. z. B. § 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 27.7.1957 (BGBl I 1069). Diesen Personenkreis hat der Gesetzgeber als schutzwürdig in der Arbeitslosenversicherung angesehen und daher die bisher bestehende Koppelung mit der Angestelltenversicherungspflicht aufgehoben.

Auf der anderen Seite hat er aber die in § 56 Abs. 3 AVAVG genannten Personen offensichtlich mit Rücksicht auf ihre Stellung im Betrieb ihres Arbeitgebers als für eine Arbeitslosigkeit kaum in Frage kommend angesehen; sonst hätte er sie nicht von der Versicherungspflicht freigestellt. Es ist daher nicht anzunehmen, daß diese Versicherungsfreiheit mit in der Aufhebung der JAV-Grenze in der Angestelltenversicherung entfallen ist. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber im damaligen Zeitpunkt eine Änderung des geltenden Rechts nicht beabsichtigt, sondern sich dies für das in Aussicht stehende Arbeitsförderungsgesetz vorbehalten hat. Dafür spricht auch die Erwägung, daß in den Ausschußberatungen trotz eines Hinweises des Regierungsvertreters, § 56 Abs. 3 AVAVG müsse wegen der beabsichtigten Aufhebung der JAV-Grenze in der AnV gestrichen werden, eine Aufhebung dieser Vorschrift nicht erfolgt ist (vgl. 45. Sitzung des Ausschusses für Arbeit vom 9.11.1967). § 56 Abs. 3 AVAVG galt daher auch für die Zeit vom 1. Januar 1968 bis 30. Juni 1969 weiter. (Das am 1.7.1969 in Kraft getretene Arbeitsförderungsgesetz enthält keine entsprechende Vorschrift mehr). Dabei kann dahinstehen, ob die Versicherungsfreiheit dieses Personenkreises am 1. Januar 1968 ohne Rücksicht auf sein Einkommen bestand oder wie bisher nur bei einem Jahreseinkommen von mehr als 21600 DM; denn das Einkommen der Beigeladenen lag nach den Feststellungen des LSG über dieser Grenze (für die Versicherungsfreiheit auch Herget und Kohler: Die Arbeitslosenversicherungspflicht nach der Einführung der allgemeinen Angestelltenversicherungspflicht, Der Betrieb 1968 S. 1025; Meurer: Ist § 56 Abs. 3 AVAVG ab 1. Januar 1968 noch anwendbar?, Beiträge 1968 S. 38; Urteil des SG Kiel vom 22. Januar 1969, Beiträge 1969 S. 119; aA. Odendahl: Sozialgerichtsbarkeit 1968 S. 95).

Auf die Revision der Klägerin muß daher das Urteil des LSG aufgehoben werden; die Berufungen gegen das sozialgerichtliche Urteil müssen zurückgewiesen werden, soweit sie den Zeitraum für die Zeit vom 1. Januar 1968 bis 30. Juni 1969 betreffen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI928060

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