Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. BG. Zuständigkeit

 

Orientierungssatz

Versucht ein Wachmann in einem Stadtbad ohne besondere rechtliche Verpflichtung einen ins Wasser Gefallenen zu retten und erleidet er dabei selbst einen Schaden, so steht sein Unfall nicht in betrieblichem Zusammenhang.

 

Normenkette

RVO § 537 Nrn. 1, 5

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 02.10.1964)

SG Hamburg (Entscheidung vom 11.10.1963)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 2. Oktober 1964 wird aufgehoben.

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 11. Oktober 1963 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, welcher der beiden beteiligten Versicherungsträger für den tödlichen Unfall aufzukommen hat, den der beim Nachtwach- und Schließdienst Stuttgart beschäftigte Wachmann Julius F (F.) in der Nacht vom 6. zum 7. Juni 1962 erlitt. Zu den dem F. anvertrauten Bewachungsobjekten gehörte das Stadtbad Cannstatt, worin sich ein von Mineralquellen gespeistes Schwimmbecken befindet. Im Stadtbad hatte F. - nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils - "die üblichen Aufgaben des Nachtwach- und Schließdienstes zu erfüllen, vor allem festzustellen, ob Türen und Fenster geschlossen waren. Ferner hatte er bei seinem mitternächtlichen Kontrollgang den am Abend geöffneten Ablaufschieber des Bades zu schließen, damit das Schwimmbecken am Morgen bei der Eröffnung des Bades mit frischem Wasser gefüllt war. Durch die Betätigung eines Dampfschiebers hatte er zudem für die Erwärmung des Wassers zu sorgen. Kurz nach Mitternacht vom 6. auf den 7. Juni 1962 ließ der Wachmann F. seinen Bruder in das Stadtbad, weil dieser dort wahrscheinlich ein Bad nehmen oder duschen wollte. Anschließend setzte der Wachmann seinen Rundgang zu anderen in Bad Cannstatt zu bewachenden Gebäuden fort. Geraume Zeit später kehrte er zum Stadtbad zurück, um das Bad zu kontrollieren und seinen Bruder wieder herauszulassen. Beim Betreten des Bades etwa um 3.20 Uhr fand er seinen Bruder im Schwimmbecken treibend vor. Nach Ablegung der Oberbekleidung sprang er in das Becken, um den Bruder herauszuziehen oder, falls er ohnmächtig war, zu retten. Hierbei wurde er selbst ohnmächtig und ertrank. Nach den polizeilichen Feststellungen werden bei dem Füllen des Bades Kohlendioxydgase der CO 2 -haltigen Mineralwasserquelle frei, die in dem Schwimmbecken direkt über der Wasseroberfläche lagern und nicht abfließen können. Durch dieses ca. 80 cm hohe Hohlendioxyd-Polster wurde der Sauerstoff verdrängt. Durch den Sauerstoffmangel sind die Brüder F ohnmächtig geworden und ertrunken".

Den von der Witwe des F. erhobenen Entschädigungsanspruch bearbeitete die für den Nachtwach- und Schließdienst zuständige Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (BG). Diese war jedoch der Auffassung, F. habe den Unfall nicht bei seiner nach § 537 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF versicherten Wachtätigkeit, sondern beim Versuch einer Lebensrettung ohne besondere rechtliche Verpflichtung erlitten; deshalb sei für die Entschädigung gemäß § 537 Nr. 5 a RVO aF der Württembergische Gemeindeunfallversicherungsverband (GUV) zuständig. Nachdem ein Versuch der BG, den GUV zur Anerkennung seiner Zuständigkeit zu bewegen, fehlgeschlagen war, gewährte sie der Witwe vorläufige Fürsorge nach § 1735 RVO.

Gleichzeitig erhob die BG beim Sozialgericht (SG) Hamburg Klage gegen den GUV mit dem Antrag, festzustellen, daß der Beklagte der zuständige Versicherungsträger für die Entschädigung des tödlichen Unfalls des F. ist, und den Beklagten zum Ersatz der durch Gewährung der vorläufigen Fürsorge entstandenen Aufwendungen zu verurteilen. Das SG hat den GUV antragsgemäß verurteilt: Ein Lebensrettungsversuch habe nicht zu dem Aufgabenkreis gehört, der dem Wachmann F. obgelegen habe. Es liege ein Versicherungsfall im Sinne des § 537 Nr. 5 Buchst. a RVO aF vor, so daß der Beklagte der für die Entschädigung zuständige Versicherungsträger sei.

Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg durch Urteil vom 2. Oktober 1964 unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung die Klage abgewiesen: Aus der "Dienstanweisung für den Wachmann" und der allgemeinen Verkehrsauffassung sei zu folgern, daß der Dienst des Wachmanns sich nicht darauf beschränke, die Schließung von Türen und Fenstern zu prüfen; vielmehr habe er die Interessen des Kunden in bezug auf das Wachobjekt ganz allgemein wahrzunehmen, soweit es ihm möglich sei. Die Aufgaben des Wachmannes F. seien noch durch die vertragliche Verpflichtung erweitert gewesen, das Bad um Mitternacht zu füllen, damit es morgens betriebsbereit war. Selbstverständlich hätte er im Rahmen dieser Verpflichtung nicht einen Toten im Schwimmbecken treiben lassen können. Obwohl dies in den Bewachungsvorschriften nicht aufgeführt sei, habe also F. bei dem Bergungsversuch im Rahmen seiner dienstlichen Pflicht gehandelt. Für die Entschädigung des somit unter § 537 Nr. 1 RVO aF einzuordnenden Arbeitsunfalls habe die Klägerin als die für den Wachbetrieb zuständige BG aufzukommen. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 26. Februar 1965 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. März 1965 Revision eingelegt und sie zugleich folgendermaßen begründet: F. sei nicht bei der Ausübung seiner Wachtätigkeit verunglückt, einerlei ob in dem Augenblick, als er ins Schwimmbecken sprang, der Bruder noch lebte oder bereits tot war. Zu den Aufgaben des Wachmannes F. habe weder die Rettung eines bewußtlos gewordenen noch die Entfernung der Leiche eines ertrunkenen Schwimmers aus dem Stadtbadbassin gehört. F. hätte nur die hierzu berufenen Personen verständigen, keinesfalls aber darüber hinausgehende Maßnahmen ergreifen, insbesondere sich persönlich, evtl. sogar unter Lebensgefahr, einsetzen dürfen.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das SG-Urteil zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen und festzustellen, daß die Klägerin den tödlichen Unfall des F. zu entschädigen hat.

Nach Auffassung des Beklagten ist dem angefochtenen Urteil beizupflichten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

II

Die zulässige Revision der Klägerin hatte Erfolg.

Die vom LSG vertretene Auffassung, der tödliche Unfall des F. stehe in rechtlich wesentlichem Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis (§ 537 Nr. 1 RVO aF) als Wachmann, daher habe die Klägerin als die für das Wachunternehmen zuständige BG die Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren, vermag der erkennende Senat aufgrund des festgestellten Sachverhalts nicht zu billigen. Zwar ist dem LSG einzuräumen, daß der zum Unfall führende Geschehensablauf auch gewisse Verknüpfungen zum Beschäftigungsverhältnis aufweist; diese treten indessen in den Hintergrund gegenüber den Umständen, die im vorliegenden Fall den Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 5 Buchst. a RVO aF begründen.

Zu den dienstlichen Aufgaben eines Wachmanns gehört - wie das LSG zutreffend angenommen hat - die allgemeine Pflicht, die Interessen des Eigentümers oder Kunden in bezug auf das Wachobjekt wahrzunehmen, soweit es ihm möglich ist; hinsichtlich des Mineralbades in Cannstatt kam hierzu noch für F. die spezielle Verpflichtung, durch Handhabung von Ablauf- und Dampfschiebern dafür zu sorgen, daß das Bad am nächsten Morgen betriebsbereit war. Sicherlich hätte F. den sich aus diesem Pflichtenkreis ergebenden Anforderungen zuwidergehandelt, wenn er bei seinem nächtlichen Kontrollgang einen hilflos im Schwimmbecken treibenden Menschen nicht beachtet und nichts zur Behebung dieser Situation unternommen hätte, die ja auch den einige Stunden später einsetzenden Badebetrieb schwerstens beeinträchtigen konnte.

Das bedeutet aber nicht, daß nun umgekehrt jedwede in dieser Situation unternommene Betätigung - hier insbesondere der todbringende Sprung des F. ins Schwimmbecken - noch den aus dem Beschäftigungsverhältnis folgenden dienstlichen Pflichten zuzuordnen wäre. Wie der Senat der Nr. 10 der Dienstanweisung für die Nachmänner entnehmen zu müssen glaubt, ist es bei "besonderen Vorkommnissen im Wachdienst" die Aufgabe des Wachmanns, nur mit geringfügigen, ohne besondere Mühe und Gefahr möglichen Verrichtungen selbst einzugreifen, für notwendig werdende Hilfeleistungen von einiger Schwierigkeit und Gefahr dagegen sofort die dazu berufenen Stellen (Feuerwehr, Polizei) zu alarmieren. Das Unterfangen, einen im Schwimmbecken treibenden, vielleicht schon bewußtlos gewordenen Menschen aus dem Wasser hinaus auf den Rand des Bassins zu bringen, übersteigt nun aber so offensichtlich die Kräfte und physischen Möglichkeiten eines Einzelnen, daß hier für den Wachmann F. aufgrund seiner dienstlichen Pflichten allein die Alternative übrigblieb, schnellstens die Hilfe Anderer herbeizurufen; nur hierin wäre nach Lage des Falles eine üblicherweise im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses zu verrichtende Tätigkeit (vgl. SozR RVO § 537 aF Nr. 23) zu erblicken gewesen.

Da F. stattdessen selbst ins Schwimmbecken gesprungen war, um seinem Bruder beizustehen und ihn evtl. an den Rand des Bassins zu ziehen, kann sein Verhalten nicht mehr dem Beschäftigungsverhältnis zugerechnet und der Versicherungsschutz demgemäß nicht aus § 537 Nr. 1 RVO aF hergeleitet werden. Die zum Unfall führende Beschäftigung des F. stand jedoch, wie das SG Hamburg in seinem Urteil vom 11. Oktober 1963 zutreffend dargelegt hat, unter dem Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 5 Buchst. a RVO aF. Der festgestellte Sachverhalt erlaubt die Schlußfolgerung, daß F. ohne besondere rechtliche Verpflichtungen seinen Bruder aus der gegenwärtigen Gefahr des Ertrinkens zu retten unternahm. Dabei ist es unerheblich, daß F. zuvor seinen Bruder pflichtwidrig in das Stadtbad hineingelassen hatte (§ 542 Abs. 2 RVO aF), zumal da nicht einmal erwiesen ist, daß F. von der Absicht seines Bruders wußte, sich ins Schwimmbecken zu begeben.

Da das LSG hiernach zu Unrecht die Klägerin als den für die Entschädigung zuständigen Versicherungsträger angesehen und die Klage deshalb abgewiesen hat, muß sein Urteil aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 11. Oktober 1963 zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297129

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