Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankheitsbedingte Arbeits-Unfähigkeit als Ausfallzeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zu den "sonstigen Nachweisen", in denen nach RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1 die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit bescheinigt sein müssen, gehört auch ein Bescheid über die Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Fortführung von BSG 1968-12-19 5 RKn 66/65 = BSGE 29, 77, 78).

2. Hatte die - auf eine versicherungspflichtige Beschäftigung folgende und zeitlich mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfallende - Erwerbsunfähigkeit bei rückschauender Betrachtungsweise aus der Sicht zur Zeit des Eintritts des neuen Versicherungsfalles des Alters nicht zu einem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben geführt, so ist auf das Altersruhegeld die - identische - Zeit der Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit als Ausfallzeit gemäß RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1 anzurechnen (Abweichung von BSG 1978-02-28 4 RJ 65/76 = BSGE 46, 48 und von BSG 1978-04-19 4 RJ 91/77 = SozR 2200 § 1259 Nr 28).

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit schließt eine durch Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit iS des § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1 RVO regelmäßig ein.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 07.02.1977; Aktenzeichen L 3 J 196/75)

SG Lübeck (Entscheidung vom 05.06.1975; Aktenzeichen S 3 J 268/74)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anrechnung einer weiteren Ausfallzeit wegen Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit (§ 1259 Abs 1 Nrn 1 und 3 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) auf das dem Kläger gewährte Altersruhegeld.

Der am 20. September 1908 geborene Kläger war von September 1954 bis Dezember 1957 zunächst als Tiefbauarbeiter und sodann als Hafenarbeiter mit Unterbrechungen versicherungspflichtig beschäftigt. Im Dezember 1957 erkrankte er an offener Lungentuberkulose (Tbc) und bezog deshalb vom 17. Dezember 1957 bis zur "Aussteuerung" am 16. Juni 1958 Krankengeld. Von der Beklagten erhielt er - ausgehend von einem im Dezember 1957 eingetretenen Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit - infolge der zunächst bewilligten Heilbehandlung vom 16. Dezember 1957 an Übergangsgeld und sodann ab 15. August 1958 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 16. November 1959). Diese wurde ihm wegen Ausheilung der Tbc mit Ablauf des Monats Juli 1963 entzogen. Vom 2. Juli bis 15. August 1963 bezog der Kläger Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und war sodann vom 4. September 1963 an wieder versicherungspflichtig beschäftigt. Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Wirkung vom 1. Oktober 1973 das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Dabei rechnete sie den Monat Dezember 1957 als Beitragszeit an. Dagegen wurde die Zeit von Januar 1958 bis August 1963 nicht als Ausfallzeit berücksichtigt (Bescheid vom 28. Februar 1974).

Der hiergegen erhobenen Klage gab das Sozialgericht (SG) statt (Urteil vom 5. Juni 1975). Die Berufung der Beklagten wurde vom Landessozialgericht (LSG) im wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen: Da der Kläger bis zu seiner "Krankschreibung" am 17. Dezember 1957 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei und sodann bis zum 16. Juni 1958 Krankengeld bezogen habe, müsse nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (Hinweis auf BSGE 29, 78) für diesen Zeitraum schon allein wegen des Krankengeldbezugs die Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung durch krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO bejaht werden. Für die anschließende Zeit bis 15. August 1958 folge die Arbeitsunfähigkeit aus der bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Heilbehandlung. Die Annahme einer Arbeitsunfähigkeit in der Zeit vom 16. August 1958 bis 31. Juli 1963 ergebe sich aus dem damaligen Bezug der Erwerbsunfähigkeitsrente, die ebenso wie das Krankengeld der Sicherstellung des Lebensunterhalts diene und im Vergleich zum Krankengeld eine erheblich weitergehende Einschränkung des Leistungsvermögens voraussetze. Mit dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit sei der Kläger auch nicht aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Eine - die Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO ausschließende - Beendigung der Beschäftigung könnte nur angenommen werden, wenn die Erwerbsunfähigkeitsrente bis zum Eintritt des Versicherungsfalls des Alters fortbestanden hätte. Der Kläger sei aber nach Wegfall der Erwerbsunfähigkeitsrente und des anschließenden Bezugs der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bis 15. August 1963, für den die Voraussetzungen des § 1259 Abs 1 Nr 3 RVO erfüllt seien, weitere zehn Jahre versicherungspflichtig beschäftigt gewesen (Urteil vom 7. Februar 1977).

Die Beklagte rügt mit der zugelassenen Revision eine Verletzung des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO durch das Berufungsgericht.

Sie beantragt,

das angefochtene und das erstinstanzliche Urteil

aufzuheben sowie die Klage gegen den Bescheid vom

28. Februar 1974 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen;

hilfsweise beantragt er,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung

an das LSG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat die Voraussetzungen für die Anrechnung der zwischen den Beteiligten noch streitigen Zeit vom 1. Januar 1958 bis 15. August 1963 als Ausfallzeit auf das dem Kläger gewährte Altersruhegeld zu Recht bejaht.

Für den Zeitraum von Januar 1958 bis einschließlich Juli 1963 hat es dabei im Ergebnis zutreffend eine Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung des Klägers durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit gemäß § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO angenommen. Dies konnte der erkennende Senat unabhängig von den dem Großen Senat des BSG zur Auslegung des Begriffs der Arbeitsunfähigkeit im Sinne dieser Vorschrift nach § 43 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorgelegten Fragen (vgl hierzu die Beschlüsse des Senats vom 12. September 1978 und 30. Juni 1981 in den Sachen 5b/5 RJ 26/76 und 5b/5 RJ 30/76) entscheiden, weil die insoweit einheitliche Rechtsprechung des BSG davon ausgeht, daß während einer - vorübergehenden - Erwerbsunfähigkeit gleichzeitig auch Arbeitsunfähigkeit besteht (vgl hierzu BSGE 28, 68, 70 = SozR Nr 20 zu § 1259 RVO; SozR Nr 36 zu § 1259 RVO; BSGE 39, 218, 220 = SozR 2200 § 1259 Nr 6; SozR 2200 § 1259 Nr 9; vgl auch Urteil des erkennenden Senats vom 28. November 1978 - 5 RKn 37/76 -).

Entgegen der Auffassung der Beklagten kann deshalb nicht angenommen werden, daß die Arbeitsunfähigkeit des Klägers mit dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit im Dezember 1957 (Feststellung der offenen Tbc-Erkrankung) beendet worden sei. Der Beklagten ist zwar einzuräumen, daß Erwerbsunfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit nicht gleichzusetzen sind, doch schließt nach der genannten ständigen Rechtsprechung des BSG der umfassendere Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs 2 RVO eine durch Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO regelmäßig ein. Abweichend von der Rechtsauffassung des LSG ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, daß dem Kläger die Arbeitsunfähigkeit auch für die Dauer der Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente vom 15. August 1958 bis 31. Juli 1963 gemäß § 1259 Abs 1 Nr 1 letzter Halbsatz RVO "bescheinigt" worden ist. Unter "sonstigen Nachweisen", in denen nach dieser Vorschrift die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit bescheinigt sein müssen, ist jede Urkunde zu verstehen, die nicht erst beim späteren Rentenstreit zustande kommt, selbst wenn sie ursprünglich nicht der Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit dienen sollte (BSGE 29, 77, 78 = SozR Nr 21 zu § 1259 RVO). Von daher genügt auch der dem Kläger erteilte Rentenbescheid vom 16. November 1959 den Erfordernissen eines Nachweises im Sinne der genannten Vorschrift. Denn durch ihn wird dem Kläger jedenfalls - wie aus der Definition der Rentenart im Bescheidanhang erhellt - das - zeitlich unbegrenzte - Bestehen von Erwerbsunfähigkeit bescheinigt. Da dieses aber - wie dargelegt - die Arbeitsunfähigkeit einschließt, wird durch den Rentenbescheid auch gleichermaßen die Arbeitsunfähigkeit des Klägers bescheinigt. Die Wirkung dieses "Nachweises" ist somit erst durch den Rentenaufhebungsbescheid mit Ablauf des Monats Juli 1963 wieder beseitigt worden. Da deshalb die Arbeitsunfähigkeit des Klägers für die Zeit von Januar 1958 bis Juli 1963 bejaht werden muß, kann dahingestellt bleiben, ob die vom LSG gegebene Begründung, die Erwerbsunfähigkeitsrente habe - ebenso wie vorher das Krankengeld - der Sicherstellung des Lebensunterhalts des Klägers gedient, das gleiche Ergebnis rechtfertigen würde.

Die fortlaufende Arbeitsunfähigkeit des Klägers von Januar 1958 bis Juli 1963 hat auch die vom Kläger bis Dezember 1957 ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO unterbrochen, weil die Erwerbsunfähigkeit nach Ausheilung der Tbc-Erkrankung zum 31. Juli 1963 wieder entfallen und der Kläger sodann bis zur Gewährung des Altersruhegeldes noch jahrelang versicherungspflichtig beschäftigt war. Die Erwerbsunfähigkeit hat somit bei rückschauender Betrachtungsweise aus der Sicht zur Zeit des Eintritts des neuen Versicherungsfalls des Alters nur vorübergehend bestanden und nicht zu einer - die Unterbrechung im Sinne des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO ausschließenden - Beendigung des Erwerbslebens geführt (vgl hierzu BSG in SozR 2200 § 1259 Nr 15 mwN und Nr 16). Eine rückschauende Betrachtungsweise ist in derartigen Fällen entgegen der Ansicht der Beklagten geboten; sie entspricht der nunmehr ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl BSGE 28, 68, 70 = SozR Nr 20 zu § 1259 RVO; SozR Nr 36 zu § 1259 RVO; BSGE 39, 218, 220 = SozR 2200 § 1259 Nr 6; ebenso bei gleichzeitigem Bestehen von Invalidität und Arbeitsunfähigkeit in der Zeit vor dem 1. Januar 1957: Urteil des 1. Senats vom 22. September 1981 - 1 RJ 94/78 -). Der Hinweis der Revision auf das Urteil des 4. Senats des BSG vom 30. Juli 1975 (SozR 2200 § 1259 Nr 9) vermag eine andere Entscheidung schon deswegen nicht zu begründen, weil dort die Frage, ob in bezug auf das Ende der Erwerbsunfähigkeit - abweichend von der bisherigen Rechtsprechung des BSG - eine vorausschauende Betrachtungsweise angezeigt sei, offengelassen worden ist. Der 4. Senat hat allerdings sodann in seinen Urteilen vom 28. Februar 1978 (BSGE 46, 48, 50 = SozR 2200 § 1259 Nr 27) und 19. April 1978 (SozR 2200 § 1259 Nr 28) eine derartige vorausschauende Betrachtungsweise zugrunde gelegt und dabei die Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO nur dann bejaht, wenn nach dem Leistungsvermögen und der Leistungsbereitschaft des Versicherten im Zeitpunkt des Wegfalls des Krankengeldes die Fortsetzung einer solchen Beschäftigung zu erwarten war. Auf Anfrage des Großen Senats hat indes der 4. Senat des BSG diese Rechtsauffassung aufgegeben (Beschluß vom 19. März 1981 - 4 S 2/80 -). Der erkennende Senat konnte deshalb seinen - eine Abweichung von den Entscheidungen des 4. Senats vom 28. Februar und 19. April 1978 aaO beinhaltenden - Vorlagebeschluß an den Großen Senat des BSG vom 12. September 1978 im vorliegenden Rechtsstreit aufheben (Beschluß vom 30. Juni 1981).

Nach den von der Revision nicht angegriffenen und deshalb für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG war der Kläger in der Zeit vom 1. bis 15. August 1963 beim Arbeitsamt als Arbeitsuchender gemeldet und bezog Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Da die damalige Arbeitslosigkeit sich unmittelbar an das Ende der Arbeitsunfähigkeit (31. Juli 1963) und diese wiederum an die bis zum Dezember 1957 ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung des Klägers angeschlossen hat, ist diese auch durch die Arbeitslosigkeit vom 1. bis 15. August 1963 im Sinne des § 1259 Abs 1 Nr 3 RVO unterbrochen worden (vgl BSG-Urteil vom 22. September 1981 - 1 RJ 94/78 mwN). Das LSG hat deshalb für diesen Zeitraum die Voraussetzungen der genannten Vorschrift zutreffend als erfüllt angesehen und unter Berücksichtigung des § 1259 Abs 1 Satz 2 RVO die Beklagte zu Recht verpflichtet, die gesamte streitige Zeit vom 1. Januar 1958 bis 15. August 1963 als Ausfallzeit auf das dem Kläger gewährte Altersruhegeld anzurechnen.

Der Revision der Beklagten mußte nach alledem der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1659202

BSGE, 234

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