Entscheidungsstichwort (Thema)

Mangelnde Sachaufklärung

 

Orientierungssatz

Für die Frage, ob das Tatsachengericht seine Pflicht, den Sachverhalt zu erforschen, nicht erfüllt und dadurch § 103 SGG verletzt hat, kommt es darauf an, ob der Sachverhalt, wie er dem Gericht zur Zeit der Urteilsfällung bekannt gewesen ist, von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte, oder ob er das Gericht zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen (vgl BSG 1956-06-07 1 RA 135/55 = SozR Nr 7 zu § 103 SGG.

 

Normenkette

SGG § 103

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 21.05.1968)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, dem Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (frühere Invalidenrente) zu entziehen. Der am 27. Juni 1912 geborene Kläger, gelernter Dreher, hat durch Verwundung beide Unterschenkel verloren. Er bezog seit August 1945 Invalidenrente. Seit dem 1. Mai 1946 arbeitete er als Schreibhilfe auf der Bürgermeisterei seiner Heimatgemeinde Bremthal (M Kreis). Am 1. Februar 1957 wurde er zum Gemeinderechner berufen. Die Beklagte entzog dem Kläger die Rente mit Ablauf September 1961, weil in den für die Rentengewährung maßgebend gewesenen Verhältnissen insofern eine Änderung eingetreten sei, als sich der Kläger als Gemeinderechner in Bremthal neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe und in dieser ihm zumutbaren Tätigkeit monatlich 550,- DM verdiene (Bescheid vom 31. Juli 1961). Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat die Revision nicht zugelassen.

Der Kläger hat gleichwohl gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Er rügt Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Hessischen LSG vom 21. Mai 1968 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Die Revision ist, obgleich das Berufungsgericht sie nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, da der Kläger wesentliche Mängel im Verfahren des Berufungsgerichts rügt, die auch vorliegen (BSG 1, 150).

Die Revision rügt zu Recht eine Verletzung der §§ 103, 128 SGG in dem Verfahren des LSG. § 103 SGG schreibt vor, daß das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht, ohne an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten gebunden zu sein. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kommt es für die Frage, ob das LSG seine Pflicht, den Sachverhalt zu erforschen, nicht erfüllt und dadurch § 103 SGG verletzt hat, darauf an, ob der Sachverhalt, wie er dem LSG zur Zeit der Urteilsfällung bekannt gewesen ist, von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte, oder ob er das LSG zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen (BSG SozR Nr. 7 zu § 103 SGG). Bei der vom LSG vertretenen Rechtsauffassung hätte es sich, wie die Revision zutreffend rügt, gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt dahin weiter aufzuklären, ob der Kläger die Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, um als Kassenverwalter und qualifizierter Verwaltungsangestellter in anderen Gemeinden und bei anderen Behörden tätig zu sein.

Das LSG hat seiner Entscheidung die Rechtsauffassung zugrunde gelegt, daß die Beklagte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit entziehen darf, wenn der Kläger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Das LSG hat angenommen, in den für die Rentengewährung maßgebend gewesenen Verhältnissen sei insofern eine Änderung eingetreten, als der Kläger durch den Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten seit der Bewilligung der Rente nicht mehr berufsunfähig im Sinne von § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung sei und dieser Zustand auch bereits zur Zeit der Rentenentziehung am 30. September 1961 vorgelegen habe. Auf Grund der Aussage des Bürgermeisters der Gemeinde Bremthal , des Zeugen I hat das LSG als festgestellt angesehen, der Kläger sei seit dem 1. Februar 1957 ununterbrochen als Gemeinderechner tätig gewesen; da er nach Angabe des Zeugen diese Arbeiten zufriedenstellend verrichtet habe, ergebe sich hieraus, daß er sich die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten im Laufe der Jahre angeeignet habe. Darüber hinaus verfüge der Kläger aber auch über Kenntnisse und Fähigkeiten eines Angestellten der Gemeindeverwaltung, denn er habe bis zum 31. Dezember 1967 alle schriftlichen Verwaltungsarbeiten, soweit sie der Bürgermeister nicht selbst erledigt habe, verrichtet und sei insbesondere mit der Rentenantragstellung, dem Stellen von Sozialhilfeanträgen, dem Ausstellen von Lohnsteuerkarten, der Antragstellung für Reisepässe und Personalausweise sowie für Bodenbenutzungserhebungen befaßt gewesen; der Kläger verfüge daher im ganzen gesehen über die Kenntnisse und Fähigkeiten eines qualifizierten Verwaltungsangestellten und könne nicht nur in seiner Heimatgemeinde B sondern in jeder anderen Gemeinde aber auch bei anderen Behörden als Kassenverwalter und Verwaltungsangestellter tätig sein. Auf diese Tätigkeiten, die dem vom Kläger erlernten Beruf eines Drehers mindestens sozial gleichwertig seien, müsse er sich verweisen lassen.

Der Kläger hatte, worauf die Revision sich beruft, bestritten, daß er die vollwertigen Kenntnisse und Fähigkeiten für die Tätigkeit eines Kassenverwalters und Verwaltungsangestellten besitze. Hierfür hatte er sich auf das Zeugnis des Leiters des Rechnungsprüfungsamtes des Landkreises M, Kreisamtmann P berufen, der wegen seiner größeren Sachkunde bekunden sollte, was er bereits in seiner schriftlichen Erklärung vom 2. Juli 1963 (Bl. 34 der Sozialgerichtsakte) angegeben habe und was im Widerspruch zu den Angaben des Zeugen I stehe. Der Kreisamtmann P hat in seiner Erklärung vom 2. Juli 1963 ausgeführt, der Kläger habe es nicht vermocht, "sich die Befähigung eines vollkommenen Kassenverwalters anzueignen, weil er - sicherlich seiner Beinamputation und der gesundheitlichen Schäden wegen - an geeigneten Fachausbildungslehrgängen oder sonst geeigneten freien Einrichtungen nicht teilnehmen konnte". Diese Angaben des Kreisamtmanns P stehen im Widerspruch zu den Angaben des Zeugen I und zu der Feststellung des LSG in dem angefochtenen Urteil, der Kläger verfüge im ganzen gesehen über die Kenntnisse und Fähigkeiten eines qualifizierten Verwaltungsangestellten und könnte nicht nur in seiner Heimatgemeinde Bremthal sondern in jeder anderen Gemeinde, aber auch bei anderen Behörden als Kassenverwalter tätig sein. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, vor seiner Entscheidung diesen Widerspruch aufzuklären und den Kreisamtmann P als Zeugen über die in sein Wissen gestellten Tatsachen zu vernehmen.

Das LSG hat in seinem Verfahren auch die Vorschrift des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG verletzt, nach der das Gericht nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet; denn es hat bei seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt, indem es die Erklärung des Kreisamtmanns P vom 2. Juli 1963 nicht beachtet hat.

Da die von der Revision gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG vorliegen, ist die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, ohne daß geprüft und entschieden werden muß, ob die weiteren von der Revision gerügten Mängel im Verfahren des LSG vorliegen. Es ist nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn es gesetzmäßig verfahren wäre. Mangels ausreichender Feststellungen kann das Revisionsgericht in der Sache selbst nicht entscheiden. Das angefochtene Urteil muß deshalb mit dem ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Vor seiner erneuten Entscheidung wird das LSG die Vernehmung des Kreisamtmanns P als Zeugen nachzuholen haben. Dabei wird es die Tätigkeitsmerkmale eines Gemeinderechners nach dem einschlägigen Tarif zu ermitteln und auch zu prüfen haben, ob es zur Feststellung der tatsächlich gegebenen beruflichen Qualifikation des Klägers auch der Vernehmung des E K (Blatt 258 der LSG-Akten) bedarf. Schließlich wird es darüber zu befinden haben, ob die Ausführungen des Sachverständigen Dr. H die Feststellung rechtfertigen, der Kläger arbeite als Gemeinderechner nicht auf Kosten seiner Gesundheit.

Die Entscheidung, inwieweit die Beteiligten außergerichtliche Kosten zu erstatten haben, bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284689

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