Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung der Aufklärungspflicht

 

Leitsatz (amtlich)

Für die Frage, ob das LSG seine Pflicht, den Sachverhalt zu erforschen, nicht erfüllt und dadurch SGG § 103 verletzt hat, kommt es darauf an, ob der Sachverhalt, wie er dem LSG zur Zeit der Urteilsfällung bekannt gewesen ist, von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte oder ob er das LSG zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen. (Vergleiche BSG 1955-11-29 1 RA 25/55 = BSGE 2, 84).

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. September 1955 wird als unzulässig verworfen.

 

Gründe

Der Kläger, der durch zwei Autounfälle vom 3. August 1945 und 16. Januar 1953 verletzt worden ist, hat vom 1. April 1949 bis 31. Mai 1953 Ruhegeld wegen vorübergehender Berufsunfähigkeit bezogen. Seine Berufung gegen das Urteil des Oberversicherungsamts Karlsruhe vom 4. Dezember 1953, durch das ihm das Ruhegeld bis 31. Mai 1953 zuerkannt worden ist, hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg durch Urteil vom 22. September 1955 zurückgewiesen. In diesem Urteil ist die Revision nicht zugelassen (vgl. § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Die Revision ist deshalb nur statthaft, wenn gerügt wird, das Verfahren des Landessozialgerichts leide an einem wesentlichen Mangel, und wenn dieser Mangel auch tatsächlich vorliegt (vgl. dazu § 161 Abs. 1 Nr. 2 SGG und Urteil des BSG vom 4.7.1955, BSG 1 S. 150). Der Kläger rügt nun Verletzung des § 103 SGG durch das Landessozialgericht; er behauptet, das Landessozialgericht habe den Sachverhalt nicht vollständig erforscht, weil es sich damit begnügt habe, sein Einkommen und seine Tätigkeit in den Jahren 1951 und 1952 festzustellen, und nicht außerdem auch noch festgestellt habe, welche Tätigkeit zur Zeit seines ersten Autounfalles am 3.August 1945 von ihm ausgeübt worden sei, welches Einkommen er damals bezogen habe, welche Tätigkeiten innerhalb seines Berufes er damals ausgeübt habe und wie sich seine Tätigkeiten und seine Einkünfte ohne die Unfälle vermutlich entwickelt hätten; diese Einkünfte hätten nämlich mehr als das Doppelte dessen betragen müssen, das ihm nun zur Verfügung gestanden habe.

Diese Rüge geht fehl. Denn dafür, ob das Landessozialgericht seine Pflicht, den Sachverhalt zu erforschen, nicht erfüllt und dadurch § 103 SGG verletzt hat, kommt es darauf an, ob der Sachverhalt, soweit er dem Gericht zur Zeit der Urteilsfällung bekannt gewesen ist, von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte oder das Gericht zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen. Nur soweit das Gericht zu dieser Zeit überzeugt gewesen ist, die Entscheidung des Rechtsstreits hänge von bestimmten tatsächlichen Umständen ab, war es verpflichtet, diese Umstände aufzuklären. Tatsächliche Umstände, die das Gericht für rechtlich unerheblich hält, braucht es nicht aufzuklären. In § 103 Abs. 2 SGG ist deshalb ausdrücklich gesagt, daß das Gericht bei der Erforschung des Sachverhalts an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden ist; das Gericht bestimmt im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die nach seiner Beurteilung der materiellen Rechtslage zur Aufklärung des Sachverhalts notwendig sind; sein Ermessen ist nur durch die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem hiernach für seine Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt (vgl. dazu Urteil des BGH zu § 539 ZPO vom 9.7.1955, NJW 1955 S. 1358, Urteil des BVG zu § 56 BVerwGG vom 10.6.1955, MDR 1955 S. 694 sowie Haueisen, NJW 1955 S. 1859 unter V 2a). Im vorliegenden Fall hat das Landessozialgericht es nun nach der Urteilsbegründung nicht etwa für entscheidend gehalten, welche Funktionen der Kläger zur Zeit des ersten Unfalles in seinem Beruf ausgeübt hatte, wie weit er gerade diese Funktion im Zeitpunkt des Fortfalls des Ruhegeldes noch ausüben konnte und welche Verdienstaussichten er ohne die Schädigung gehabt hätte. Nach seiner Auffassung kam es vielmehr allein darauf an, ob die Arbeitsfähigkeit des Klägers im Zeitpunkt der Entscheidung des Landessozialgerichts auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken sei. Deswegen hat das Gericht nur untersucht, in welcher Weise der Kläger noch als Ingenieur tätig sein könne. Ob diese Rechtsauffassung richtig ist oder nicht, ist für die Statthaftigkeit der Revision gleichgültig. Es kommt dafür nur darauf an, ob das Berufungsgericht nach seiner eigenen Rechtsauffassung die vom Kläger in der Revisionsbegründung für notwendig erachteten Feststellungen treffen mußte oder nicht. Das brauchte es aber nicht, weil es seiner Rechtsauffassung nach auf die behaupteten tatsächlichen Umstände gar nicht ankam. Bei dieser Sach- und Rechtslage muß die Revision des Klägers nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2129538

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