Entscheidungsstichwort (Thema)

Neuer Bescheid nach Klageerhebung. Streitgegenstand bei Dauerrechtsverhältnis

 

Orientierungssatz

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl ua BSG 6.10.1977 7 RAr 82/76 = SozR 1500 § 96 Nr 6), ist § 96 SGG entsprechend anzuwenden, wenn der neue Verwaltungsakt zwar nicht denselben Streitgegenstand betrifft, er aber im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses ergeht und einen weiteren Zeitraum erfaßt. In diesem Falle besteht ein die Anwendbarkeit des § 96 SGG rechtfertigender innerer Zusammenhang zwischen älterem und neuem Bescheid (hier: Neufeststellung des Arbeitsentgelts nach § 136 Abs 2 S 2 AFG) auf jeden Fall dann, wenn der nachgehende Bescheid aus den gleichen Gründen wie der Erstbescheid angefochten wird (vgl BSG 30.11.1978 12 RK 33/76 = SozR 1500 § 96 Nr 14).

 

Normenkette

SGG § 96 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; AFG § 136 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 13.07.1983; Aktenzeichen L 3 Ar 79/82)

SG Ulm (Entscheidung vom 18.12.1981; Aktenzeichen S 7 Ar 1031/81)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der seit 1975 arbeitslose Kläger Anspruch auf höhere Arbeitslosenhilfe (Alhi) hat.

Der Kläger bezog zunächst Arbeitslosengeld (Alg) und danach von November 1976 bis 22. Februar 1979 Anschluß-Alhi, deren Bemessung sich nach dem letzten Bruttoverdienst von 5.000,-- DM (wöchentliches Arbeitsentgelt zuletzt 935,-- DM) richtete. Für den anschließenden Bewilligungsabschnitt vom 23. Februar 1979 bis 22. Februar 1980 setzte die Beklagte das Arbeitsentgelt mit wöchentlich 750,-- DM neu fest; hierbei legte sie den Verdienst gemäß Tarifgruppe K 7 des Manteltarifvertrages für die Angestellten der Metallindustrie Nordwürttemberg-Nordbaden zugrunde. Die hiergegen vom Kläger eingelegten Rechtsmittel hatten keinen Erfolg. Im Bewilligungszeitraum Februar 1980 bis 22. Februar 1981 erhöhte sich das Arbeitsentgelt infolge Dynamisierung auf 780,-- DM wöchentlich. Mit Bescheid vom 7. April 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 1981 bewilligte das Arbeitsamt A. für die Zeit vom 23. Februar 1981 bis 22. Februar 1982 Alhi unter Zugrundelegung eines wöchentlichen Arbeitsentgelts von 665,-- DM, welches sich nach der Tarifgruppe K 6 des oben erwähnten Manteltarifvertrages errechnete.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage, die darauf gerichtet war, dem Kläger für die Zeit ab 23. Februar 1981 eine nach dem letzten Bruttogehalt (5.000,-- DM) zu bemessende Alhi zu gewähren, abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen und die Klagen gegen die im Laufe des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheide des Arbeitsamtes A. vom 23. März 1982 (Widerspruchsbescheid vom 14. April 1982) und vom 9. September 1982 (Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 1983) als unzulässig verworfen. In dem Bescheid vom 23. März 1982 hat das Arbeitsamt die Weiterbewilligung der Alhi für die Zeit vom 23. Februar 1982 bis 22. Februar 1983 geregelt und hierbei das für die Bemessung der Leistung maßgebliche Arbeitsentgelt gemäß § 136 Abs 2 Satz 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) neu festgestellt. Es ist nunmehr von einem Gehalt gemäß Tarifgruppe K 4 des oben erwähnten Manteltarifvertrages ausgegangen; mit dem Bescheid vom 9. September 1982 hat das Arbeitsamt den Bescheid vom 23. März 1982 für die Zeit ab 1. September 1982 aufgehoben, weil der Kläger eine die Kurzzeitigkeitsgrenze überschreitende selbständige Tätigkeit ausübe. Der Kläger hat gegen beide Bescheide vor dem SG Klage erhoben. Die Klagen sind dort noch anhängig.

Das LSG hat in seinem Urteil vom 13. Juli 1983 die Auffassung vertreten, die Bescheide seien nicht gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Sie hätten die Bescheide, über die das SG entschieden habe, weder abgeändert noch ersetzt. Auch eine entsprechende Anwendung des § 96 SGG scheide aus. Die im Bescheid vom 23. März 1982 geregelte Herabsetzung der Alhi könne sich auf den bisherigen Streitstoff nicht auswirken. Dieser habe für einen anderen Zeitraum eine für den Kläger günstigere Herabbemessung zum Gegenstand gehabt. Auch der Grundsatz der Prozeßökonomie rechtfertige die Einbeziehung des Bescheides vom 23. März 1982 in das laufende Verfahren nicht. Hierbei könne nicht außer Acht bleiben, daß dieser Bescheid durch den Bescheid vom 9. September 1982 ersetzt worden sei und letzterer dann gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens würde, falls man den ersteren einbeziehe. Die hierdurch eintretende Ausuferung des Prozeßstoffes widerspreche dem Grundsatz der Prozeßökonomie. Auch Gründe des Vertrauensschutzes rechtfertigten eine Einbeziehung der streitigen Bescheide nicht, weil sie der Kläger jeweils rechtzeitig vor dem SG angefochten habe.

Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 96 SGG. Er ist der Auffassung, das LSG habe die Klagen gegen die Bescheide vom 23. März 1982 und 9. September 1982 zu Unrecht als unzulässig verworfen. Diese Verwaltungsakte seien entgegen der Auffassung des LSG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Nach § 96 SGG müßten im laufenden Verfahren alle Verwaltungsakte erfaßt werden, die den Prozeßstoff beeinflussen könnten. Deswegen würden auch Verwaltungsakte einbezogen, die im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses einen Zeitraum beträfen, der sich an den anschließe, über den der bereits angefochtene Verwaltungsakt entschieden habe. Nur eine solche Auslegung des § 96 SGG werde dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung gerecht. Über das gesamte Streitverhältnis solle schnell und erschöpfend in dem bereits eingeleiteten Verfahren entschieden werden.

Der Kläger beantragt,

ihm gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Juli 1983 insoweit aufzuheben, als es die Klage gegen die Bescheide des Arbeitsamtes Aalen vom 23. März und 14. April 1982 als unzulässig abgewiesen hat, die erwähnten Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für die Zeit ab 23. Februar 1982 Arbeitslosenhilfe unter Zugrundelegung eines monatlichen Bruttoverdienstes von 5.000,-- DM zu gewähren, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig. Der Kläger hat zwar die Revisionsbegründungsfrist, die bis zum 31. Oktober 1983 verlängert war, versäumt. Die Begründung der Revision ist erst durch Schriftsatz vom 2. März 1984, der am 5. März 1984 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen ist, erfolgt. Jedoch ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 SGG). Er war ohne Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten. Er konnte, nachdem sein erster Prozeßbevollmächtigter mit Schriftsatz vom 20. Oktober 1983 das Mandat niedergelegt hatte, infolge seiner Mittellosigkeit keinen neuen Prozeßbevollmächtigten bestellen. Die jetzige Prozeßbevollmächtigte des Klägers konnte erst mit ihrer Beiordnung durch den Beschluß vom 30. Januar 1984, mit dem dem Kläger Prozeßkostenhilfe bewilligt wurde und der dem Kläger am 13. Februar 1984 zugestellt worden ist, tätig werden. In der Zwischenzeit war der Kläger nicht gemäß § 166 SGG vertreten. Innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses, dh von dem Zeitpunkt an, in dem der Kläger wußte, daß ihm seine jetzige Prozeßbevollmächtigte beigeordnet war, hat er durch den am 5. März 1984 beim BSG eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die versäumte Rechtshandlung - die Revisionsbegründung - nachgeholt.

Die Revision ist auch im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das LSG hätte, wie der Kläger zutreffend gerügt hat, über die Bescheide vom 23. März und 9. September 1982 sachlich entscheiden müssen. Diese waren gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens vor dem LSG geworden. Nach dieser Vorschrift wird ein neuer Verwaltungsakt, der nach Klageerhebung den ursprünglich angefochtenen abändert oder ersetzt, Gegenstand des Verfahrens. Wird der Verwaltungsakt - wie hier - während des Berufungsverfahrens erlassen, entscheidet das LSG erstinstanzlich, dh kraft Klage, über seine Rechtmäßigkeit (BSG SozR 1500 § 96 Nr 14 mwN).

Die Auffassung des LSG, hinsichtlich des Bescheides vom 23. März 1982 sei § 96 SGG nicht unmittelbar anzuwenden, ist zutreffend. Dieser Bescheid ersetzt weder den ursprünglich angefochtenen Bescheid vom 7. April 1981 noch ändert er diesen. Er betrifft einen anderen Zeitraum als der ursprünglich angefochtene Bescheid. Das LSG hat jedoch verkannt, daß hier eine entsprechende Anwendung des § 96 geboten ist.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der sich auch der Senat angeschlossen hat (BSG SozR 1500 § 96 Nr 6), ist § 96 SGG entsprechend anzuwenden, wenn der neue Verwaltungsakt zwar nicht denselben Streitgegenstand betrifft, er aber im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses ergeht und einen weiteren Zeitraum erfaßt. In diesem Falle besteht ein die Anwendbarkeit des § 96 SGG rechtfertigender innerer Zusammenhang zwischen älterem und neuem Bescheid auf jeden Fall dann, wenn der nachgehende Bescheid aus den gleichen Gründen wie der Erstbescheid angefochten wird (vgl BSG SozR Nr 19 zu § 96 SGG; SozR 1500 § 96 Nr 14; BSG, Urteil vom 27. April 1982 - 6 RKa 8/80). Dies führt im vorliegenden Falle zur Einbeziehung des Bescheides vom 23. März 1982 in das Verfahren über den Erstbescheid. Seit der Arbeitslosmeldung des Klägers besteht ein für beide Beteiligten Rechte und Pflichten begründendes Dauerrechtsverhältnis, aus dem sich die Rechte des Klägers auf Zahlung von Alhi herleiten. Der im Rahmen dieses Rechtsverhältnisses ergangene Erstbescheid betraf im Kern dieselbe Rechtsfrage, die sich auch bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 23. März 1982 stellt. Zu entscheiden ist nach den Anträgen des Klägers darüber, ob bei der Bemessung seiner Alhi von einem monatlichen Bruttoarbeitsverdienst von 5.000,-- DM auszugehen ist oder ob die Beklagte berechtigt war, dieses Arbeitsentgelt gemäß § 136 Abs 2 Satz 2 AFG neu festzustellen.

Hierbei ist unerheblich, daß eine gemeinsame Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des ursprünglich angefochtenen und des nachfolgenden Bescheides nicht möglich war, da die Berufung unzulässig war. Dies kann sich erst auf Grund der mündlichen Verhandlung ergeben, bis zu deren Schluß der Kläger noch einen wesentlichen Mangel im Verfahren des SG rügen kann, der gemäß § 150 Nr 2 SGG die Zulässigkeit der Berufung zur Folge hat. Der nachfolgende Bescheid wird aber kraft Gesetzes mit seiner Bekanntgabe Gegenstand des Verfahrens über den Erstbescheid. Eine andere Lösung würde auch dem weiteren Grundgedanken des § 96 SGG widersprechen, der dahin geht, den Betroffenen vor Rechtsnachteilen zu schützen, die dadurch entstehen können, daß er im Vertrauen darauf, daß über den früheren Bescheid bereits ein Verfahren anhängig ist, es unterläßt, den späteren Bescheid selbständig anzufechten. Dem entspricht es, daß die selbständige Klage gegen den Folgebescheid wegen anderweitiger Rechtshängigkeit gemäß § 94 Abs 2 SGG abgewiesen werden müßte.

Im übrigen entspricht die gefundene Lösung im Gegensatz zur Auffassung des LSG dem Grundsatz der Prozeßwirtschaftlichkeit, der durch § 96 SGG verwirklicht werden soll. Sie vermeidet eine unnötige Belastung der Beteiligten und der Gerichte durch die Konzentration auf ein Verfahren an einem Gericht.

Dem steht auch nicht entgegen, daß durch die Einbeziehung des Bescheides vom 23. März 1982 auch der Bescheid vom 19. September 1982 Gegenstand des Verfahrens über den Erstbescheid wird, was aus der unmittelbaren Anwendung von § 96 SGG folgt. Durch den Bescheid vom 9. September 1982 ist der Bewilligungsbescheid vom 23. März 1982 ab 1. September 1982 aufgehoben worden. Er tritt deshalb von diesem Zeitpunkt an an die Stelle des Bescheides vom 23. März 1982. Abgesehen davon, daß Grundsätze der Prozeßökonomie für diese Rechtsfolge keine Rolle spielen, führt sie auch entgegen der Auffassung des LSG nicht zu einem Ergebnis, das diesem Grundsatz widerspricht. Es findet auch insoweit die Konzentration auf ein Verfahren statt, die im vorliegenden Fall sogar zur Einsparung einer Instanz führen kann.

Mit seiner Entscheidung weicht der Senat nicht von den vom LSG zur Begründung seiner Ansicht angeführten Urteilen des BSG vom 27. April 1982 - 6 RK 7/79 - und 9. September 1982 - 11 RA 74/81 - (SozR 1500 § 96 Nr 27) ab. Das Urteil des 11. Senats betrifft Bescheide, die ihre Grundlagen nicht in demselben Rechtsverhältnis hatten. Der Erstbescheid betraf die Höhe der Versichertenrente aus der Rentenversicherung, der spätere Bescheid die Höhe der Witwenrente. Die Rechtsauffassung des 6. Senats in dem vorstehend aufgeführten Urteil geht dahin, daß Folgebescheide, die ein Dauerrechtsverhältnis regeln, dann gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Verfahrens werden, wenn es ausschließlich um die gleiche Rechtsfrage geht wie bei dem ursprünglich angefochtenen Bescheid. Das ist aber gerade hier der Fall, soweit es den Bescheid vom 23. März 1982 angeht.

Da das LSG zur Frage der Rechtmäßigkeit der streitigen Bescheide von seinem Rechtsstandpunkt aus zutreffend keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, ist der Senat nicht in der Lage, in der Sache selbst zu entscheiden. Das Urteil des LSG muß daher, soweit es angefochten worden ist, gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dieses wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656352

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