Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei Unterbrechung des Heimweges wegen der Suche eines verlorenen Handschuhs

 

Orientierungssatz

Fährt ein Mopedfahrer auf dem Weg von seiner Arbeitsstätte zu seiner Wohnung eine kleine Strecke zurück, um einen verlorenen Handschuh zu suchen, so besteht jedenfalls dann Unfallversicherungsschutz, wenn die Umstände des Falles von einer relativ kurzen Suchstrecke und vor allem dadurch gekennzeichnet sind, daß ein auf der Fahrt verlorener Teil der Fahrausrüstung gesucht wurde.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 12.11.1987; Aktenzeichen L 5 U 208/86)

SG Mainz (Entscheidung vom 11.11.1986; Aktenzeichen S 5 U 117/86)

 

Tatbestand

Die klagende Berufsgenossenschaft (BG) verlangt von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) die Erstattung von Kosten, die ihr wegen der Behandlung von Unfallfolgen des Beigeladenen entstanden sind. Umstritten ist, ob der Beigeladene am 31. März 1981 einen als Arbeitsunfall geltenden Wegeunfall erlitten hat.

Der beigeladene Arbeiter machte sich am Unfalltag nach Arbeitsende mit seinem Moped auf den Weg von seiner Arbeitsstätte zu seiner Wohnung. Seine Handschuhe hatte er zwischen Tank und Sitz abgelegt. Nachdem er etwa die Hälfte der 4 km langen Fahrstrecke zurückgelegt hatte, merkte er, daß er einen Handschuh verloren hatte. Um das Kleidungsstück wiederzuerlangen, wendete er sein Fahrzeug und fuhr eine kleine Strecke (etwa 90 m) zurück. Bei dem Versuch, auf die Gegenfahrbahn zu gelangen, um wieder heimwärts zu fahren, wurde er von einem Personenkraftwagen erfaßt. Dabei erlitt er eine komplette Oberschenkelfraktur rechts sowie multiple Platz- und Schürfwunden. In dem Krankenhaus, in das er eingeliefert wurde, leitete der Durchgangsarzt sofort das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren mit stationärer Behandlung ein.

Mit Schreiben vom 28. Mai 1985 forderte die Klägerin von der Beklagten, ihr die Heilbehandlungskosten gemäß § 105 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) zu erstatten, und verlangte "unter Berücksichtigung der Ausschlußfrist des § 111 SGB X" 1.802,36 DM. Sie habe festgestellt, daß der Unfall am 31. März 1981 kein Arbeitsunfall gewesen sei, weil der Beigeladene auf einem unversicherten Abweg verunglückt sei. Die Beklagte lehnte das ab.

Vor dem Sozialgericht (SG) Mainz und vor dem Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz ist die Klägerin ohne Erfolg geblieben (Urteile vom 11. November 1986 - S 5 U 177/86 - und vom 12. November 1987 - L 5 U 208/86 -). Das LSG hat ausgeführt, der Beigeladene habe gemäß § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) einen Arbeitsunfall erlitten, weil er auf der gesamten Heimfahrt bis zum Unfallereignis ununterbrochen unter Versicherungsschutz gestanden habe. Ein Versicherter, der auf einem Zweirad während der Fahrt etwas verliere und deswegen nicht sofort anhalten könne, verrichte auch noch eine versicherte Tätigkeit, wenn er erst nach Fortsetzung des Weges anhalte, umkehre und wieder ein kurzes Stück des Weges zurückfahre, um den verlorenen Gegenstand wieder aufzuheben. Das gelte jedenfalls dann, wenn - wie im vorliegenden Falle - der verlorene Gegenstand Teil der Schutzkleidung des Mopedfahrers sei. Der Beigeladene sei regelmäßig mit dem Moped zu seiner Arbeitsstelle gefahren. Der verlorene Handschuh habe zu seiner Fahrausrüstung gehört. Er habe die Handschuhe grundsätzlich zu seiner Fahrsicherheit benötigt, gleichgültig, ob sie aus Nachlässigkeit oder Bequemlichkeit auf der Unfallfahrt eine Zeitlang zwischen Tank und Sitz abgelegt gewesen seien.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 550 Abs 1 RVO iVm § 105 SGB X. Der Beigeladene sei bei "natürlicher Betrachtungsweise" während einer erheblichen Unterbrechung seines Heimwegs verunglückt und habe deshalb nicht mehr unter Versicherungsschutz gestanden. Die Fahrt in entgegengesetzte Richtung und das erneute Wendemanöver habe der Beigeladene aus eigenwirtschaftlichen, unversicherten Gründen unternommen. Denn der Handschuh, den er gesucht habe, sei zur Durchführung und auch zur Fortsetzung der Heimfahrt nicht erforderlich gewesen. Das folge daraus, daß die Handschuhe nicht angezogen, sondern zwischen Tank und Sitz abgelegt gewesen seien. Die vom LSG herausgestellten Gründe der "Verkehrssicherheit" und der "allgemeinen Ordnung" entbehrten hier jeder Grundlage.

Die Klägerin beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den geltend gemachten Erstattungsanspruch aus Anlaß des Unfalls des Beigeladenen vom 31. März 1981 in dem Umfang zu befriedigen, wie sie - die Beklagte - zur Leistung verpflichtet gewesen wäre.

Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Der geltend gemachte Erstattungsanspruch steht der Klägerin nicht zu, denn sie hat nicht als unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht. Der umstrittene Unfall des Beigeladenen ist von der Klägerin als Arbeitsunfall zu entschädigen gewesen.

Nach § 105 Abs 1 SGB X ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger unter bestimmten Voraussetzungen erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat. Ob die Klägerin als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung dementsprechend Sozialleistungen zu Unrecht erbracht hat, hängt davon ab, ob der Beigeladene am 31. März 1981 einen Arbeitsunfall erlitt. Das trifft zu.

Nach § 550 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gilt ein Unfall auf einem mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängenden Weg von dem Ort der Tätigkeit als Arbeitsunfall. § 548 Abs 1 RVO - hier iVm § 550 Abs 1 RVO - setzt voraus, daß sich ein Arbeitsunfall bei der versicherten Tätigkeit ereignet. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist, und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der Betriebstätigkeit bestehen, der sogenannte innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Bei Wegen iS des § 550 Abs 1 RVO ist es die Notwendigkeit, eine Wegstrecke zurückzulegen, um von der privaten, unversicherten Lebenssphäre an den Ort der versicherten Betriebstätigkeit zu gelangen oder von dort aus wieder zurück zu einem Ort, an dem der Versicherte abschließend zur privaten Lebensgestaltung übergeht; dieser Ort ist in den überwiegenden Fällen - so auch im vorliegenden - die Wohnung des Versicherten.

Die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen aus, um den Klageanspruch abschließend zu beurteilen. Das LSG hat festgestellt, daß der Beigeladene regelmäßig mit dem Moped zu seiner Arbeitsstelle gefahren sei. Der verlorene Handschuh habe zu seiner Fahrausrüstung als Teil der Schutzkleidung eines Mopedfahrers gehört. Er habe die Handschuhe grundsätzlich zu seiner Fahrsicherheit benötigt, gleichgültig, ob er sie durchgehend getragen oder je nach körperlichem Befinden vorübergehend zwischen Tank und Sitz abgelegt habe. Diese tatsächlichen Feststellungen hat die Klägerin nicht formgerecht gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) substantiiert gerügt, sondern nur mit Gegenbehauptungen tatsächlicher Art angegriffen, die im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden dürfen. Die Feststellungen des LSG sind also insoweit für den Senat bindend (§ 163 SGG).

Daraus folgt, daß die gesamte Tätigkeit des Beigeladenen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand, auch während der umstrittenen Zeit der Unterbrechung des Heimweges - mit Heimweg ist hier das Sichfortbewegen zu seiner Wohnung gemeint (s das Urteil des Senats vom 29. August 1974 - 2 RU 177/72 - USK 74119) -, als er eine kurze Strecke zurückfuhr und dann wieder wendete. Hierbei kann zugunsten der Klägerin unterstellt werden, daß der Beigeladene nicht wußte, wohin sein Handschuh gefallen war und daß er ihn deswegen suchen wollte. In diesem wie in dem Falle, daß der Beigeladene wußte, wohin sein Handschuh gefallen war, ist der Versicherungsschutz nicht unterbrochen gewesen. Der innere Zusammenhang der Suchtätigkeit mit der Notwendigkeit, den Heimweg zurückzulegen, ergibt sich aus dem festgestellten Umstand, daß der verlorene Handschuh zur Sicherheitsausrüstung eines Mopedfahrers gehörte. Jedenfalls unter den Umständen dieses Einzelfalls Ende März 1981 ließen es die Benutzungsvoraussetzungen eines Mopeds als sachlich begründet erscheinen, jederzeit an beiden Händen Handschuhe anziehen zu können. Die Notwendigkeit, den Heimweg zurückzulegen, hier in freier Entscheidung mit dem Moped, läßt es also auch als sachlich begründet erscheinen, unterwegs verlorene Teile der Fahrausrüstung sofort zu suchen. Tätigkeiten in diesem Zusammenhang sind nach § 550 Abs 1 RVO mitversichert.

Der Senat läßt hier die Fragen noch unbeantwortet, ob - wie das LSG es meint - die Bestimmung und Funktion des verlorenen Gegenstandes gleichgültig sein könnte. Er läßt es auch offen, ob bei Überschreitung bestimmter Grenzen der Länge der Suchstrecke eine Unterbrechung des Versicherungsschutzes eintreten könnte. Jedenfalls unter den Umständen des vorliegenden Falles, der von einer relativ kurzen Suchstrecke und vor allem dadurch gekennzeichnet ist, daß ein auf der Fahrt verlorener Teil der Fahrausrüstung gesucht wurde, besteht ein sachlicher innerer Zusammenhang zwischen der Suchtätigkeit und der Notwendigkeit, den Heimweg zurückzulegen.

Der Unfall, den der Beigeladene dabei erlitt, ist deshalb als Arbeitsunfall zu entschädigen gewesen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 und Abs 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666736

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