Entscheidungsstichwort (Thema)

Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers nach § 1531 RVO

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Krankenkasse, die bei der Prüfung der Frage, ob sie (nach der Kann-Vorschrift des § 182c S 3 RVO) in besonderen Härtefällen den vom Versicherten für Zahnersatz und Zahnkronen zu zahlenden Restbetrag übernehmen soll, sich entsprechend ihren Richtlinien an Gesamteinkommenssätze hält, handelt ermessensfehlerhaft, wenn sie dabei die vom Versicherten bezogene Sozialhilfe nicht in Abzug bringt.

 

Orientierungssatz

Ein Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers nach § 1531 RVO besteht nicht nur wegen solcher Leistungen, auf die dem Versicherten ein Rechtsanspruch gegen die KK zusteht. Er kann auch dann vorliegen, wenn es sich um eine bloße Ermessensleistung - wie bei § 182c S 3 RVO - handelt.

 

Normenkette

RVO § 182c S 3 Fassung: 1977-06-27, § 1531; BSHG § 2 Abs 2 Fassung: 1969-09-18

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 26.08.1981; Aktenzeichen L 4 Kr 49/80)

SG Würzburg (Entscheidung vom 20.03.1980; Aktenzeichen S 8 Kr 52/79)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte (als Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung) verpflichtet ist, dem Kläger - Sozialhilfeträger - Kosten zu ersetzen, die dieser als Teilkosten einer zahnärztlichen Behandlung (-Zahnersatz-) der Tochter des Beigeladenen übernommen hat.

Der Beigeladene, der seit Januar 1978 als Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe Pflichtmitglied der Beklagten war, hat von der Klägerin laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bezogen. Von Juli bis September 1978 standen ihm monatlich für sich und seine sechs minderjährigen Kinder ohne Mietzuschuß 2.347,40 DM zur Verfügung nämlich 1.167,40 DM Arbeitslosengeld, 730,-- DM Kindergeld und 450,-- DM Hilfe zum Lebensunterhalt. Ende Juli 1978 wurde seine Tochter I, für die er einen Anspruch auf Familienkrankenhilfe nach § 205 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hatte, mit Zahnersatz versorgt. Von den Kosten in Höhe von 2.046,99 DM hat die Beklagte - entsprechend ihrer Satzung - gem § 182c Satz 1 und 2 RVO 80 % übernommen. Mit Bescheid vom 17. Juli 1978 hat sie die Übernahme des Restbetrages in Höhe von 409,40 DM abgelehnt. Daraufhin hat ihn der Kläger im Wege der Sozialhilfe übernommen. Auf seine Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte zur Erstattung verurteilt. Im Berufungsverfahren hat die Beklagte - unter Berücksichtigung eines ihr bei der Berechnung des Einkommens des Versicherten unterlaufenen Rechenfehlers - einen Teilbetrag in Höhe von 172,66 DM anerkannt, so daß nur noch 236,74 DM im Streit sind. Sie hat sich auf die Richtlinien des Landesverbandes der Ortskrankenkassen in Bayern (Bl 39 ff der SG-Akten) bezogen, nach denen sie laut Vorstandsbeschluß vom 6. Dezember 1977 verfährt. Diese Richtlinien sahen für das Jahr 1978 bei monatlichen Bruttoeinnahmen zwischen 2.340,-- DM und 2.534,-- DM bei fünf familienhilfeberechtigten Angehörigen eine Eigenbeteiligung bis zur Höhe von 25 % der Einnahmen vor (hier: 2.347,40 DM: 4 = 586,85 DM). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Beim Vorliegen eines besonderen Härtefalles nach § 182c RVO habe die Beklagte keinen Ermessensspielraum mehr gehabt. Ein Härtefall liege aber immer dann vor, wenn die Einnahmen den notwendigen Lebensbedarf im Sinne des BSHG nicht überschreiten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten. Sie rügt eine Verletzung des § 182c S 3 RVO und ist unter Berufung auf das Urteil des Senats 3 RK 3/81 vom 28. Oktober 1981 der Ansicht, daß ein besonderer Härtefall nicht schon wegen der Hilfsbedürftigkeit im Sinne des BSHG vorliege und daß selbst bei einer Hilfsbedürftigkeit ihr noch ein Ermessensspielraum zustehe. Die Hilfsbedürftigkeit des Beigeladenen sei zumindest im Klageverfahren im Rahmen einer nachgeholten Ermessensüberprüfung ausreichend berücksichtigt worden. Bei Gesamteinkommen von monatlich mehr als 2.000,-- DM müßten jedenfalls 10 % der Einnahmen für die Übernahme der einmaligen Restkosten angesetzt werden.

Die Beklagte beantragt,

auf die Revision der Beklagten wird das Urteil

des Bayerischen Landessozialgerichts vom

26. August 1981 - L 4/Kr 49/80 - und das Urteil

des Sozialgerichts Würzburg vom 20. März 1980

- S 8 Kr 52/79 - aufgehoben. Die Klage wird

abgewiesen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Berufungsgerichts für zutreffend.

Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Beklagte gegenüber dem Beigeladenen die Zahlung des Restbetrages nach § 182c S 3 RVO zu Unrecht verweigert hat, so daß dem Kläger ein Ersatzanspruch nach § 1531 RVO zusteht.

Das Vorliegen der Voraussetzungen eines Ersatzanspruches des Klägers nach § 1531 RVO ist hier nur insoweit zweifelhaft, als in Frage steht, ob der Beigeladene für eine Zeit unterstützt wurde, für die er einen Anspruch nach der RVO gegen die Beklagte hatte.

Ein Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers nach § 1531 RVO besteht nicht nur wegen solcher Leistungen, auf die dem Versicherten ein Rechtsanspruch zusteht. Er kann auch dann vorliegen, wenn es sich um eine bloße Ermessensleistung - wie bei § 182c Satz 3 RVO - handelt. Soweit die Krankenkasse eine solche Leistung nicht ohne pflichtwidrige Ermessensausübung verweigern darf, ist sie gegenüber dem Versicherten zur Leistung verpflichtet, so daß diesem auch in solchen Fällen ein "Anspruch" auf die Leistung iS des § 1531 RVO zusteht (BSG 9, 112, 123; 13, 134, 139; 14, 261, 264; 40, 20, 21; s auch Urteile des Senats vom 18. Februar 1981 - 3 RK 2/80 - SozR 2200 § 182c RVO Nr 3, vom 28. Oktober 1981 - 3 RK 3/81 - und Urteil des 5. Senats vom 25. Februar 1981 - 5a/5 RKn 16/79 - SozR 2200 § 182c RVO Nr 4). Das war hier der Fall. Nach § 182c Satz 1, 2 RVO in der seit dem 1. Juli 1977 geltenden Fassung des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes (KVKG) vom 27. Juni 1977 - BGBl I S 1069 - (Art 1 § 1 Nr 8, Art 2 § 17 Abs 1 KVKG) bestimmt die Satzung die Höhe der Zuschüsse zu den Kosten für Zahnersatz und Zahnkronen; die Zuschüsse dürfen 80 % der Kosten nicht übersteigen. Nach Satz 3 der Vorschrift kann die Krankenkassen den Restbetrag in besonderen Härtefällen ganz oder teilweise übernehmen. Wie der Senat in seinem Urteil vom 28. Oktober 1981 - 3 RK 3/81 - ausgeführt hat, handelt es sich bei § 182c S 3 RVO - anders als in dem vom Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes am 19. Oktober 1971 entschiedenen Fall (OGB 3/70) - um eine echte Ermessensvorschrift, in der der unbestimmte Rechtsbegriff "in besonderen Härtefällen", der einen Beurteilungsspielraum gewährt, mit einer Kann-Bestimmung zusammentrifft, die zum Ausdruck bringt, daß die Behörde die gesetzliche Rechtsfolge aussprechen darf, aber nicht muß. Das bedeutet, daß zwar auch hier der unbestimmte Rechtsbegriff in den Ermessensbereich hineinragt und damit zugleich dessen Inhalt bestimmt, nicht aber derart, daß beide Bereiche identisch sind. Dem Versicherungsträger bleibt vielmehr auch beim Vorliegen eines besonderen Härtefalles - wenn sich der Versicherte also in einer extrem angespannten wirtschaftlichen Lage befindet - grundsätzlich ein darüber hinausragender Ermessensspielraum, der es erlaubt, auch andere Umstände, etwa die eigene angespannte Haushaltslage, bei der Entscheidung mit zu berücksichtigen.

Wie der Senat weiter ausgeführt hat, liegt ein "besonderer Härtefall" iS des § 182c S 3 RVO nicht schon deshalb vor, weil der Versicherte hilfsbedürftig im Sinne des BSHG ist. Ist der Versicherte als hilfsbedürftig iS der §§ 11, 12 BSHG iVm der gem § 22 BSHG ergangenen Regelsatzverordnung anzusehen, dann übt der Versicherungsträger das ihm nach § 182c S 3 RVO eingeräumte Ermessen nur dann rechtsfehlerfrei aus, wenn er diese Hilfsbedürftigkeit als besonderen Umstand in Betracht zieht und dabei den Rechtsbegriff nicht verkennt.

Die Beklagte hat hier die Hilfsbedürftigkeit des Beigeladenen nicht besonders in Betracht gezogen. Das ergibt sich ganz eindeutig daraus, daß sie sich an die Einkommenssätze ihrer Richtlinien hielt ohne die Sozialhilfeleistungen und ihren Anteil am Gesamteinkommen auseinanderzuhalten. Hierzu wäre sie aber verpflichtet gewesen. Nach § 2 Abs 2 BSHG werden die Verpflichtungen anderer Träger von Sozialleistungen durch die Vorschriften des BSHG nicht berührt, und auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen anderer, auf die kein Anspruch besteht, dürfen nicht deshalb versagt werden, weil nach dem BSHG entsprechende Leistungen vorgesehen sind. Damit ist es der Beklagten verwehrt, eine Ermessensleistung mit der Begründung abzulehnen, daß ein Anspruch auf entsprechende Leistungen der Sozialhilfe bestehe. Hierauf läuft es aber hinaus, wenn die Beklagte unter Hinweis auf das Gesamteinkommen ohne Abzug von Sozialhilfe ihre Richtlinien-Prozentsätze in Anwendung bringt.

Die Verpflichtung der Beklagten, bei ihrer Entscheidung den "Bedarf" des Versicherten in Erwägung zu ziehen, ergibt sich nicht nur aus dem Inhalt des Begriffs "besonderer Härtefall", sondern auch aus § 33 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I), wonach bei unbestimmten Inhalt von Rechten und Pflichten die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten, sowie sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen sind. Da dieser Bedarf aber, wie aus den oben genannten Gründen dem § 2 Abs 2 BSHG zu entnehmen ist, ohne Rücksicht auf die empfangenen Sozialhilfeleistungen zu ermitteln war, ist es bei dem Vorgehen der Beklagten zu einer echten Prüfung der Hilfsbedürftigkeit des Beigeladenen, also der Tatsache, ob und inwieweit er den sozialhilferechtlichen Mindestbedarf unterschritten hat (§§ 11, 12 BSHG iVm der gem § 22 BSHG ergangenen Regelsatzverordnung) gar nicht gekommen. Wäre die Beklagte hier aber zutreffender Weise von einem bloßen Einkommen von 1.167,40 DM Arbeitslosengeld zuzüglich 730,-- DM Kindergeld, also insgesamt 1.897,40 DM ausgegangen, so hätte dies unter Anwendung ihrer Richtlinien, an die sie sich gebunden hält, zu einer vollen Übernahme der Restkosten geführt. Denn nach der Richtlinien-Tabelle für das Jahr 1978 beträgt die Eigenbeteiligung der Versicherten bei einem Einkommen zwischen 1.756,-- DM und 1.950,-- DM (- also den Betrag von 1.897,-- DM mit umgreifend -) bei fünf familienhilfeberechtigten Angehörigen höchstens 15 %; da der Beigeladene aber sechs solcher Angehörigen hatte und die Gesamttabelle eine Eigenbeteiligung unter 15 % nicht vorsieht, führen die Richtlinien-Grundsätze der Beklagten in diesem Fall zu einer vollen Übernahme. Da die selbstbindende Zugrundelegung der Richtlinien die Geltendmachung weiterer, über den unbestimmten Rechtsbegriff hinausgehender Ermessensgesichtspunkte aber ausschließt, ist ihr Ermessensspielraum "auf Null geschrumpft", so daß eine Ablehnung der beantragten Leistung aus Ermessensgründen nicht in Betracht kommt. Ihre im Prozeß nachgetragene Begründung vermag daran nichts zu ändern.

Dem Beigeladenen stand daher ein Leistungsanspruch iS des § 1531 RVO gegen die Beklagte zu, so daß die Beklagte zur Kostenerstattung verpflichtet ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659352

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