Leitsatz (amtlich)

Für den Zugang und damit für das Wirksamwerden einer gegenüber einer Behörde unter Abwesenden abzugebenden Willenserklärung ist ihre tatsächliche Kenntnisnahme durch den Empfänger (Sachbearbeiter, Geschäftsstelle) nicht erforderlich.

Auf die Wirksamkeit der - einer Behörde zugegangenen - Willenserklärung ist es ohne Einfluß, daß den Sachbearbeiter noch vor ihrer Kenntnisnahme ihr fernmündlicher Widerruf erreicht.

 

Normenkette

BGB § 130 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1896-08-18; SGG § 84 Fassung: 1953-09-03; BGB § 130 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1896-08-18, Abs. 3 Fassung: 1896-08-18

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. September 1975 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Dem Ehemann der Klägerin war mit Bescheid vom 27. Juli 1972 der Antrag auf Erhöhung der Versorgungsrente abgelehnt, seinem Widerspruch nur teilweise abgeholfen worden (Bescheid vom 12. Juli 1974). Narbige Veränderungen der Leber waren als wehrdienstbedingte Schädigungsfolgen anerkannt, dagegen war dies für eine Coronarsklerose nicht angenommen worden. Am 23. Juli 1974 teilte der Bevollmächtigte des Beschädigten dem Sachbearbeiter bei dem Landesversorgungsamt fernmündlich mit, der Widerspruch werde zurückgenommen. Der Sachbearbeiter nahm darüber einen Aktenvermerk auf mit dem Zusatz: " Die Rücknahme erfolgt schriftlich." Diese Erklärung wurde dann auch in einem Schreiben abgegeben, das einen Tag später - am 24. Juli 1974 - bei dem Landesversorgungsamt einging. An diesem Tage stellte der Bevollmächtigte des Beschädigten telefonisch klar, daß die Rücknahme des Widerspruchs sich auf beide oben angeführten Bescheide (nämlich die vom 27. Juli 1972 und 12. Juli 1974) beziehe. Ebenfalls am 24. Juli 1974, und zwar zwischen 11.00 und 11.30 Uhr, teilte der Beschädigte selbst dem Sachbearbeiter fernmündlich mit, daß der Widerspruch doch aufrechterhalten bleibe. Zu diesem Zeitpunkt lag dem Sachbearbeiter die schriftliche Rücknahmeerklärung noch nicht vor.

Die Aufforderung des Beschädigten, auf den Widerspruch zur Sache zu entscheiden, lehnte das Landesversorgungsamt ab (Schreiben vom 12. November 1974); es hielt den Bescheid vom 27. Juli 1972 insoweit für bindend; zur Erteilung eines neuen Bescheides zugunsten des Beschädigten (§ 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG -) bestehe kein Anlaß.

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt (Urteil des SG Koblenz vom 25. April 1975), den Widerspruch des Beschädigten zu bescheiden: Die Rücknahme des Rechtsbehelfs sei wirksam widerrufen worden. Zwar sei die Rücknahme noch vor ihrem Widerruf der Behörde im rechtlichen Sinne zugegangen. Aber der Sachbearbeiter habe vor Empfang der schriftlichen Rücknahmeerklärung erfahren, daß der Beschädigte davon wieder abrücke. Wenn die Versorgungsverwaltung dies nicht gelten lasse, verstoße sie gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. - Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 9. September 1975). Seines Erachtens wirkte die Rücknahme des Widerspruchs vom Zugang des entsprechenden Schriftstücks, d. h. von der Einlage des Briefes in das Postfach des Landesversorgungsamtes an. Daß dem Sachbearbeiter die fernmündliche Gegenerklärung schon vor Kenntnisnahme des Schriftstücks bekannt war und er vorher auf die Rücknahme hin noch keine Dispositionen habe treffen können, falle nicht ins Gewicht, weil er schon am Tage vorher telefonisch über die Rücknahme des Rechtsbehelfs informiert worden sei. Sogar das Telefonat habe zu einer gültigen Rücknahmeerklärung ausgereicht.

Der Beschädigte hat die - von dem LSG zugelassene - Revision eingelegt. Nach seinem Tode verfolgt seine Ehefrau, die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft gelebt hatte (§ 56 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches 1 - SGB 1 -), den Klageanspruch weiter. Sie verficht im besonderen die Auffassung, daß es für die Rücknahme des Widerspruches der Schriftform bedürfe.

Sie beantragt,

das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer schriftlichen Entscheidung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg. Dem Berufungsurteil ist im Ergebnis zuzustimmen.

Da die Versorgungsbehörde es abgelehnt hat, zur Sache zu entscheiden, ist die Klage auf Verurteilung des Beklagten zum Erlaß des abgelehnten Verwaltungsakts gerichtet. Diese Klage ist als Untätigkeitsklage gemäß § 88 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) anzusehen (BSG 19, 164, 166; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 4 zu § 88 SGG).

Die Erklärung des Beschädigten, er nehme den Widerspruch gegen den Verwaltungsakt vom 27. Juli 1972 zurück, ist noch vor dem Widerruf dieser Erklärung wirksam geworden. Das Wirksamwerden dieser - einer Behörde gegenüber abzugebenden - Willenserklärung (vgl. § 84 SGG) bestimmt sich nach dem Zeitpunkt, in welchem die Mitteilung der Behörde "zuging". Dies folgt aus der für "empfangsbedürftige Willenserklärungen" grundsätzlich maßgebenden Regelung des § 130 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB - (BSG 9. April 1970, 8 RV 587/68; BSG 37, 257, 259, 260 = SozR 2200 § 1248 Nr. 3; dazu Art. 24 des Entwurfs einer Verwaltungsrechtsordnung für Württemberg 1931; Kempfler, NJW 1965, 1951; Krause, Die Willenserklärungen des Bürgers im Bereich des öffentlichen Rechts, Verwaltungsarchiv 61 (1970), 297, 319, 321 f.). Der Zugang der schriftlichen Rücknahmenachricht ist nicht gleichbedeutend mit ihrer Wahrnehmung durch den dafür zuständigen Behördenvertreter oder Sachbearbeiter (vgl. RGZ 135, 247; Staudinger/Coing, Kommentar zum BGB, I. Band, 11. Aufl., Randnr. 2 zu § 130; entgegen Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anmerkung 9 zu § 84, S. 297). Abzustellen ist nicht auf die wirkliche Kenntnisnahme, sondern auf die "empirisch begründete Möglichkeit der Kenntnisnahme" (Dilcher, Archiv für die civilist. Praxis - AcP - 154 (1955) 120; BAG 16. Januar 1976 - 2 AZR 619/74 = Der Betrieb 1976, 1018). Dafür genügt es indessen nicht, daß der Brief in den Macht- oder Willensbereich des Adressaten gelangte, so daß es allein von ihm abhing, wann er den Brief öffnete und las (hierüber Dilcher, aaO, 121, 140; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Band, Das Rechtsgeschäft, 2. Aufl., 1975, 231). Der Zeitpunkt des Zugangs wird noch ein Stück weiter hinausgeschoben bis zu dem Augenblick, in dem man normalerweise bei einem der Lebenserfahrung entsprechenden Verlauf der Dinge davon ausgehen kann, daß der Empfänger von dem Brief Notiz nimmt. Andererseits bleiben Fallbesonderheiten außer Betracht. Unerheblich ist, ob der Adressat infolge besonderer konkreter Umstände, die der Absender nicht einzukalkulieren braucht, gehindert ist, das Schriftstück einzusehen (Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 3. Aufl., S. 359). Mithin war in dieser Sache der Tatbestand des Zugangs in dem Zeitpunkt erfüllt, in dem das Schriftstück in verkehrsüblicher Weise in die Verfügungsgewalt der Versorgungsbehörde gekommen war und die Behörde sich über seinen Inhalt zu informieren vermochte (vgl. BVerwG 9, 217, 219; BGH 27. Januar 1965, NJW 1965, 965, 966; BFH BStBl 1976 II, 76).

Die Rücknahmeerklärung des Ehemanns der Klägerin war sonach noch nicht vollendet, als das betreffende Schreiben in das Postschließfach des Landesversorgungsamtes einsortiert worden war. Diese Rechtsfolge trat aber in dem Moment ein, zu dem nach der Gepflogenheit des Verkehrs mit der Leerung des Schließfaches und der Abholung der Post durch Bedienstete des Landesversorgungsamtes zu rechnen war (BSG, 11. August 1976 - 10 RV 225/75 -; RGZ 142, 402, 407 f.; BGH 19. Januar 1955 LM Nr. 2 zu § 130 BGB; BVerwG 10, 293; Larenz, aaO, 358 f. m. w. N.; vgl. auch BVerwG NJW 1964, 788). Erwartungsgemäß ist dieser Vorgang in die ersten Dienststunden des 24. Juli 1974, eines Werktages, zu verlegen. Diese Erwartung ist um so mehr gerechtfertigt, als eine Behörde, die sich auf die Entgegennahme termin- und fristabhängiger Äußerungen einstellen muß, die nötigen Vorkehrungen für einen zeitgerechten Zugang zu treffen hat (Dilcher aaO 130 f.). Sollte es einmal in dieser Beziehung an geeigneten Maßnahmen fehlen, dann könnte eine Verzögerung der tatsächlichen Kenntnisnahme durch den Erklärungsempfänger an der Verwirklichung des - objektivierten - "Zugangs" nichts ändern (Larenz, aaO, 359; Flume, aaO, 232 f.) Von dieser Rechtsauffassung her erübrigt sich eine genauere Ermittlung des Sachverhalts. So ist es nicht erheblich, ob das Landesversorgungsamt alle an seine Anschrift gerichteten und bis zum frühen Morgen beim Postamt jeweils eingegangenen Sendungen auch vor 11.00 Uhr des betreffenden Tages abholen ließ. Im übrigen hat der Beklagte unwidersprochen vorgetragen, daß das Schriftstück mit der Rücknahmeerklärung am 24. Juli 1974 morgens um 7.40 Uhr bei dem Landesversorgungsamt vorgelegen habe. Aber selbst wenn dies nicht zuträfe und die Behörde ihr Postschließfach zu einer Stunde entleert haben sollte, zu der das Sortiergeschäft beim Postamt noch nicht abgeschlossen war und wenn deshalb in das Schließfach eingelegte Post dort über die fragliche Tageszeit hinaus liegen geblieben sein sollte, so hätte das Amt die nach der Erfahrung vorauszusehende Gelegenheit zur Kenntnisnahme gehabt. Auf diese Gelegenheit ist nach dem Begriff des "Zugehens" wesentlich abzuheben (RGZ 91, 60, 62). Ob in bezug auf den Zugang von Einschreibesendungen Abweichendes gilt, ist hier nicht zu untersuchen (dazu OLG Celle, 9. April 1974, NJW 74, 1386).

Aus Rechtsgründen ist der Beklagte nicht gehindert, sich auf das Wirksamwerden der Widerspruchsrücknahme zu berufen. Erwägungen in dieser Richtung hat das Berufungsgericht angestellt; insoweit kann ihm nicht gefolgt werden. Allerdings haben sich Staudinger/Coing (Kommentar zum BGB I. Band, Allg. Teil, 11. Aufl., Randziffer 17 zu § 130 BGB; wohl auch BGB - RGRK I 1, 11. Aufl. Anmerkung 19 zu § 130) in gleichem Sinne für den Fall ausgesprochen, daß ungeachtet eines früheren "Zugangs" der Adressat tatsächlich gleichzeitig Kenntnis sowohl von der Willenserklärung als auch von ihrem Widerruf erhält. Sie meinen, der Adressat verstoße gegen Treu und Glauben, wenn er geltend mache, der Widerruf sei später als die Erklärung zugegangen, obgleich der Empfänger von beidem im gleichen Augenblick erfahren habe. Dieser für den privaten Rechtsverkehr vertretenen Ansicht ist die Rechtsprechung nicht gefolgt (vgl. RGZ 91, 63). Diese Auffassung - jedenfalls in der Allgemeinheit, in der sie vertreten worden ist - erscheint auch dem erkennenden Senat mit der klaren Bestimmung des § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB und mit der vom Gesetzgeber verfolgten Absicht unvereinbar. Für das Wirksamwerden des Widerrufs einer Willenserklärung ist nur das zeitliche Verhältnis des Zugehens beider Erklärungen, nicht aber die Kenntnisnahme maßgebend. Das Gesetz hat anstelle des im psychologischen Sinne beachtlichen Moments der Kenntnisnahme aus praktischen Erwägungen für die rechtliche Wirkung das leichter zu konstatierende Zugehen zum entscheidenden Kriterium erhoben (v. Tuhr, Der allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 2, 1 (1914), 448; RGZ 60, 334, 337; 91, 63; ferner Oertmann, Bürgerliches Gesetzbuch, Allg. Teil, 3. Aufl. 1927, Anmerkung 3 e zu § 130 BGB S. 456; Soergel/Siebert/Hefermehl, BGB, Band 1, Allg. Teil, 10. Aufl. 1967, Randnr. 26 zu § 130).

Ist sonach für die Wirksamkeit einer Willenserklärung im allgemeinen allein der objektive Tatbestand des Zugehens ausschlaggebend, so kann gleichwohl im Verhältnis zwischen Bürger und Behörde im Einzelfall das rechtliche Ergebnis nicht allein aus diesem Tatbestand zu folgern sein. Die Behörde kann durch die ihr obliegende Betreuungspflicht gehalten sein, den - verspäteten, nach Zugang einer Willenserklärung zugehenden - Widerruf zu beachten; so zB wenn der Bürger durch eine unrichtige und unvollständige Auskunft veranlaßt, gegen seine wohlverstandenen Interessen handelte oder wenn er etwas unter sachwidrigem Einfluß der Behörde erkennbar übereilt erklärte (über Grundlagen und Gesichtspunkte entsprechender Einwendungen: BSG, SozR Nr. 2 zu § 1407; BSG 23. Juni 1976 - 12/7 RAr 80/74 -; Krejci, Nebenpflichten der Sozialversicherungsträger gegenüber den Versicherten (unter besonderer Berücksichtigung der Betreuungspflichten), Vierteljahresschrift für Sozialrecht - VSSR - 3 (1975), 212, 230 ff.; vgl. RGZ 58, 406, 408; ferner zu Parallelfällen im Prozeßrecht BSG SozR 8 zu § 102 SGG). Tatsachen, die in diesen Richtungen zu verwerten wären, sind aber von der Revision nicht behauptet worden und nicht ersichtlich. - Offenbleiben kann außerdem, ob für die im Verwaltungsverfahren ausgesprochene Rücknahme eines Rechtsbehelfs der Grundsatz der Unwiderruflichkeit gilt (so für prozessuale Erklärungen: BSG 14, 138; BSG SozR 6 zu § 102 SGG; Haueisen, WzS 1956, 293, 295: mit Zugang bei Gericht) oder ob eine solche Erklärung entsprechend den Vorschriften des BGB wegen Irrtums oder Täuschung angefochten werden kann (§§ 119, 123 BGB; Krause, aaO. 332 f.). Ein Sachverhalt, der einem dieser Rechtsnormen unterzuordnen wäre, ist nicht geltend gemacht worden.

Schließlich ist dem Beklagten auch nicht eine Überschreitung oder ein Fehlgebrauch seines Ermessens vorzuwerfen. Die Versorgungsverwaltung dürfte den Beschädigten nicht an seiner Rücknahmeerklärung festhalten, wenn sie zu erkennen hätte, daß über den Versorgungsanspruch materiell-rechtlich unrichtig entschieden worden war (§ 40 Abs. 1 VerwVG). Für eine solche Unrichtigkeit auf tatsächlichem oder rechtlichem Gebiet fehlt indessen jeder Hinweis.

Aus dem vorher Gesagten folgt, daß die Rücknahme des Widerspruchs noch vor ihrem Widerruf zugegangen und wirksam geworden war (vgl. RGZ 91, 63). Gegengründe, die dem Eintritt dieser Rechtsfolge oder der Berufung darauf entgegenstünden, bestehen nicht. Das LSG hat also im Ergebnis richtig entschieden. Bei dieser Sach- und Rechtslage ist nicht zu erörtern, ob die Widerspruchsrücknahme auch telefonisch rechtswirksam ausgesprochen worden ist und erklärt werden konnte. Namentlich kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Erklärung einer besonderen Form bedurfte (vgl. § 84 Abs. 1 SGG; dazu einerseits Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit Anmerkung 9 zu § 84 SGG und andererseits VGH Kassel NJW 1971, 1717).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 279

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