Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Rüge der Verletzung des Rechts der freien Beweiswürdigung. Mangelberuf

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Rüge, die Grenzen freier Beweiswürdigung seien überschritten.

 

Orientierungssatz

1. Zu der Rüge einer Verletzung des § 128 SGG gehört wie zu jeder Verfahrensrüge die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben (§ 164 Abs 2 S 3 SGG) und aus denen die Möglichkeit folgt, daß das Gericht ohne Verfahrensverletzung anders entschieden hätte. Erforderlich ist eine Darlegung, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (vgl BSG 11.7.1985 5 b RJ 88/84 = BSGE 58, 239). Eine formgerechte Verfahrensrüge einer Verletzung des Rechts der freien Beweiswürdigung liegt nicht vor, wenn die Revision lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG setzt (vgl BSG 29.10.1981 8/8a RU 72/80) oder diese eigene Würdigung der des Tatsachengerichts als überlegen bezeichnet; dem Revisionsgericht ist es nämlich nicht gestattet, unter mehreren möglichen Beweiswürdigungen eine Wahl zu treffen oder diese sonst zu bewerten (vgl BSG 22.9.1981 1 RJ 42/80). Dabei kann von einem Verstoß gegen die Denkgesetze nur gesprochen werden, wenn aus den Gegebenheiten nur eine Folgerung gezogen werden kann, jede andere nicht "denkbar" ist und das Gericht die allein denkbare nicht gezogen hat (vgl BSG 15.5.1985 7 RAr 40/84).

2. Zur Frage, ob der Beruf der Unterrichtsschwester ein Mangelberuf ist.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs 1 S 1, § 164 Abs 2 S 3; AFG § 44 Abs 2 S 2 Nr 4

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 15.08.1986; Aktenzeichen L 6 Ar 79/85)

SG Koblenz (Entscheidung vom 04.06.1985; Aktenzeichen S 9 Ar 66/84)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin darlehensweise bewilligtes Unterhaltsgeld (Uhg) als Zuschuß zu gewähren.

Die 1941 geborene Klägerin, ausgebildete Krankenschwester, nahm von Mai 1983 bis April 1984 mit Erfolg an einer Fortbildung zur Unterrichtsschwester teil. Die Beklagte bewilligte ihr Uhg gemäß § 44 Abs 2a des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) als Darlehen (Bescheid vom 20. Juni 1983). Den Widerspruch verwarf die Beklagte als unzulässig wegen Versäumung der Widerspruchsfrist mit dem Zusatz, er sei auch unbegründet, da im Arbeitsamtsbereich kein Mangel an Arbeitskräften herrsche, so daß die Voraussetzungen des § 44 Abs 2 AFG für eine zuschußweise Forderung nicht erfüllt seien (Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 1984).

Nach Klageerhebung nahm die Beklagte den Widerspruchsbescheid insoweit zurück, als der Widerspruch als unzulässig verworfen wurde.

Mit Urteil vom 4. Juni 1985 hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, der Klägerin das beantragte Uhg als nichtrückzahlbaren Zuschuß zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die von der Beklagten eingelegte Berufung mit Urteil vom 15. August 1986 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klägerin könne das ihr darlehensweise bewilligte Uhg als Zuschuß beanspruchen, da die Voraussetzungen des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG erfüllt seien. Auf dem für die Klägerin aufgrund der von ihr abgegebenen Mobilitätserklärung maßgeblichen bundesweiten Arbeitsmarkt stehe dem Angebot an freien Stellen für Unterrichtsschwestern eine so geringe Nachfrage nach solchen Stellen auf Arbeitnehmerseite gegenüber, daß der Bedarf nicht in der für eine ausgeglichene Arbeitsmarktsituation erforderlichen Weise gedeckt werden könne. Da den Arbeitsämtern nur relativ selten freie Planstellen von den Trägern der Krankenpflegeschulen gemeldet würden und nur ein kleiner Teil der Stellenbesetzungen mit Hilfe der Arbeitsämter durchgeführt werde, seien die von der Beklagten mitgeteilten Zahlen der Arbeitslosen und der offenen Stellen in dem Berufsbereich nicht aussagekräftig genug, um allein von ihnen ausgehen zu können. Unabhängig davon zeige das Zahlenmaterial der Beklagten für die Jahre 1982 bis 1985 die Entwicklung weg von einem früheren Mangelberuf hin zu einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage nicht eindeutig auf. Deshalb seien zur Feststellung des tatsächlich vorhandenen Arbeitsmarktes weitere und aussagekräftige Erkenntnisquellen heranzuziehen. Daß der Beruf der Unterrichtsschwester in der Zeit vom 3. Mai 1983 bis 18. April 1984 als Mangelberuf zu werten sei, ergebe ua die Auswertung der Stellenangebote zweier führender Fachzeitschriften, denen für das Kalenderjahr 1983 ein Bestand von 400 offenen Stellen zu entnehmen sei. Nach den Stellungnahmen je einer Krankenpflegeschule in Mainz und Trier sei eine Mangelsituation im Bereich der Unterrichtsschwestern nicht nur in der Region Trier, sondern landesweit in Rheinland-Pfalz und im Saarland gegeben und könne mithin repräsentativ bundesweit gelten. Hiermit stimmten die Erhebungen der Berufsverbände überein, selbst wenn sie nicht frei von eigenen Interessen sein sollten. Schließlich ergebe sich die Mangelsituation aus der Stellungnahme des Berufsfortbildungswerks des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Stuttgart vom 19. März 1985 und der von dieser Institution durchgeführten Untersuchung zur Feststellung der freien Stellen für Unterrichtspflegekräfte an Krankenpflegeschulen (Stand: November/Dezember 1984), aus der sich die Zahl der freien Stellen bundesweit auf 390 hochrechnen lasse, sowie aus den Erhebungen der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen im Herbst 1982, die einen Fehlbestand von ca 160 Unterrichtskräften erbracht hätten. Infolge des am 1. September 1985 in Kraft getretenen Krankenpflegegesetzes (KrPflG) könne sich der Bedarf deutlich erhöhen. Dieser Trend könne bei Übernahme des Europäischen Krankenpflegeübereinkommens seine Fortsetzung finden.

Mit der von dem LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG. Die Würdigung des LSG, das von ihr vorgelegte Zahlenwerk zeige die Entwicklung weg von einem früheren Mangelberuf hin zu einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nicht eindeutig auf, sei nicht nachvollziehbar. Es verstoße gegen § 128 Abs 1 SGG, ihr Zahlenmaterial als nicht aussagekräftig anzusehen und auf Quellen zurückzugreifen, deren Aussagekraft zweifelhaft sei. Der tatsächliche Bedarf könne nicht durch Addition der Stellenangebote zweier führender Fachzeitschriften festgestellt werden, denn diese gebe keinen Stellenbestand, sondern nur eine Bewegungszahl wieder. Die von dem LSG verwerteten Angaben von Berufsverbänden seien nicht frei von eigenen Interessen. Es sei unzulässig, von den Verhältnissen in der Region Trier über Rheinland-Pfalz auf die Situation im Bundesgebiet zu schließen. Selbst wenn man jedoch die Auskünfte der Krankenhäuser und Berufsverbände zugrundelegen würde, übersteige der rechnerische Bedarf an Arbeitskräften in keinem Jahr die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen, so daß der Beruf Unterrichtsschwester/- pfleger in der maßgebenden Zeit keinen Mangelberuf iS des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG darstelle. Auch unter Berücksichtigung des KrPflG sei mit einer Erhöhung des Bedarfs und dem Eintritt einer Mangelsituation nicht zu rechnen.

Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, aufgrund der von dem LSG sachgerecht ausgewerteten Erkenntnisquellen stehe fest, daß in dem Berufsbereich der Unterrichtsschwestern sowohl während als auch nach Beendigung der Bildungsmaßnahme auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt ein erheblicher Fehlbedarf vorhanden gewesen sei. Demgegenüber seien die von der Beklagten mitgeteilten Zahlen der Arbeitslosen und offenen Stellen nicht aussagekräftig, da, wie sie selbst einräume, in diesem Berufsbereich die Vermittlung häufig ohne Inanspruchnahme ihrer Dienste erfolge.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil hält den Revisionsangriffen stand.

Offenbleiben kann, ob der Widerspruch gegen den Bescheid, den die Klägerin nach ihren Angaben am 7. Juli 1983 erhalten hat, am 11. August 1983 fristgemäß eingelegt wurde. Hat die Widerspruchsbehörde in der Sache entschieden, so eröffnet der Widerspruchsbescheid den Rechtsweg (BSGE 49, 85, 87 mwN = SozR 1500 § 84 Nr 3). Das gilt entsprechend, wenn die Behörde im Klageverfahren die Verwerfung des Widerspruchs in eine Sachentscheidung umwandelt.

Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Uhg in der Form eines nicht zurückzuzahlenden Zuschusses ist § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG idF des 5. AFG-ÄndG. Danach ist Voraussetzung für das Uhg als Zuschuß, daß die Teilnahme an der Bildungsmaßnahme notwendig ist, damit ein Antragsteller, der einen Beruf ergreifen will, in dem ein Mangel an Arbeitskräften auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt besteht oder in absehbarer Zeit zu erwarten ist, diesen ausüben kann; dies gilt nicht, wenn der Antragsteller einen Beruf ausübt, in dem ein Mangel an Arbeitskräften auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt besteht.

Da nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG in dem Beruf der Krankenschwester kein Mangel an Arbeitskräften herrschte, kommt es für die Entscheidung allein darauf an, ob der Beruf der Unterrichtsschwester - vom Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung, spätestens vom Beginn der Maßnahme aus gesehen - ein Mangelberuf war oder in absehbarer Zeit werden würde. Das LSG hat das bejaht. Die dagegen erhobenen Revisionsrügen greifen nicht durch.

Das LSG hat das materielle Recht zutreffend ausgelegt, indem es in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG (insbesondere BSGE 41, 1, 4 = SozR 4100 § 36 Nr 11) den Begriff des Mangelberufs dahin bestimmt hat, daß dem Angebot an freien Stellen für eine bestimmte Beschäftigung eine so geringe Nachfrage nach solchen Stellen auf Arbeitnehmerseite gegenübersteht, daß der Bedarf in dem entsprechenden Beschäftigungszweig nicht in der für eine ausgeglichene Arbeitsmarktsituation erforderlichen Weise gedeckt werden kann. Dagegen wendet sich die Revision auch nicht. Auf die Frage, ob der Mangelberuf im Regionalbereich oder im Bundesgebiet bestehen muß, kommt es nicht an, weil das LSG seine Feststellung gleichmäßig für beide Bereiche getroffen hat.

Aufgrund umfangreicher Ermittlungen hat das LSG das Vorliegen eines in diesem Sinn zu definierenden Mangelberufs in tatsächlicher Hinsicht festgestellt. Es hat dabei die amtliche Statistik der Beklagten, die Auswertung der Stellenangebote zweier Fachzeitschriften, die Stellungnahmen von Krankenpflegeschulen und Berufsverbänden sowie Erhebungen des Berufsfortbildungswerkes des DGB und der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen berücksichtigt, die zum Teil sich widersprechenden Ergebnisse abgewogen und im Wege der Beweiswürdigung den Schluß gezogen, daß auf dem regionalen und dem bundesweiten Teilarbeitsmarkt dem Angebot an freien Stellen für Unterrichtsschwestern nur eine geringe Nachfrage gegenübergestanden habe und daß dieser Bedarf sich voraussichtlich erhöhen werde. Dabei handelt es sich um tatsächliche Feststellungen, an die der Senat nach § 163 SGG gebunden ist, da in bezug auf diese Feststellungen keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht sind.

Die Beklagte hat zwar mit der Revision ua gerügt, daß das LSG die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten habe. Diese Rüge entspricht aber nicht den Anforderungen, die § 164 Abs 2 Satz 3 SGG stellt.

Das Tatsachengericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Das schließt ein, daß auch seine Beweiswürdigung frei ist. Dabei ist es lediglich an die Regeln der Logik und der Erfahrung gebunden. Ein Verstoß gegen § 128 SGG liegt vor, wenn es gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstößt und wenn sein Urteil auf diesem Mangel beruhen kann. Zu der Rüge einer Verletzung des § 128 SGG gehört wie zu jeder Verfahrensrüge die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) und aus denen die Möglichkeit folgt, daß das Gericht ohne Verfahrensverletzung anders entschieden hätte. Erforderlich ist eine Darlegung, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (BSG, Urteil vom 11. Juli 1985 - 5b RJ 88/84 -, insoweit in BSGE 58, 239 und SozR 2200 § 1246 Nr 129 nicht mit abgedruckt). Eine formgerechte Verfahrensrüge einer Verletzung des Rechts der freien Beweiswürdigung liegt nicht vor, wenn die Revision lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG setzt (BSG, Urteil vom 29. Oktober 1981 - 8/8a RU 72/80 -) oder diese eigene Würdigung der des Tatsachengerichts als überlegen bezeichnet; dem Revisionsgericht ist es nämlich nicht gestattet, unter mehreren möglichen Beweiswürdigungen eine Wahl zu treffen oder diese sonst zu bewerten (BSG, Urteil vom 22. September 1981 - 1 RJ 42/80 -). Dabei kann von einem Verstoß gegen die Denkgesetze nur gesprochen werden, wenn aus den Gegebenheiten nur eine Folgerung gezogen werden kann, jede andere nicht "denkbar" ist und das Gericht die allein denkbare nicht gezogen hat (BSG, Urteil vom 15. Mai 1985 - 7 RAr 40/84 -).

Diesen Anforderungen entspricht die Revisionsbegründung nicht. Die Beklagte beschränkt sich darauf, die Bewertung der von ihr vorgelegten statistischen Angaben als nicht aussagekräftig genug zu beanstanden, die vom LSG vorgenommene Auswertung des Zahlenmaterials als nicht sachgerecht und als für sie, die Beklagte, nicht nachvollziehbar zu bezeichnen, selbst andere Schlüsse aus dem Material zu ziehen, die Auswertung der Stellenangebote und die keinen Stellenbestand, sondern eine Bewegungszahl wiedergebende Addition dieser Angebote zu rügen, bei der vom LSG vorgenommenen Hochrechnung von der Region Trier über Rheinland-Pfalz auf das Bundesgebiet gesicherte Grundlagen zu vermissen und die Auffassung des LSG über die zukünftige Verschärfung der Arbeitsmarktlage nicht zu teilen. Damit behauptet die Revision aber nur, daß die tatsächlichen Feststellungen des LSG zum Mangelberuf unrichtig, fragwürdig oder bedenklich, nicht dagegen, daß sie in einer gegen die Gesetze der Logik verstoßenden Weise zustande gekommen und damit denkgesetzlich unmöglich seien, erst recht nicht, daß das LSG nicht bestehende Erfahrungssätze angenommen oder bestehende mißachtet hätte.

Da nach den bindenden Feststellungen des LSG die Klägerin die Voraussetzungen des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 4 AFG erfüllt hat, mußte die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658507

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