Leitsatz (redaktionell)

1. "Befugter" ständiger Aufenthalt im Bundesgebiet schon vor Erteilung der Zuzugsgenehmigung.

2. Der Begriff des Wohnsitzes in BVG § 7 entspricht dem des bürgerlichen Rechts. Danach ist er der gewählte und gewollte dauernde räumliche Mittelpunkt des gesamten Lebens.

Der vom Wohnsitz zu unterscheidende dauernde oder ständige Aufenthalt ist der Ort der tatsächlichen Anwesenheit, in dem für längere Zeit Wohnung genommen wird, ohne den Willen, sich an dem Ort rechtlich oder tatsächlich niederzulassen.

3. Ein befugter Aufenthalt iS des BVG § 7 Nr 1 aF liegt vor, wenn der Aufenthalt durch eine zuständige Behörde bewilligt worden ist. Die Aufenthaltsbefugnis wirkt grundsätzlich auf den Tag der tatsächlichen Aufenthaltsnahme zurück.

 

Normenkette

BVG § 7 Nr. 1 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 30. Juni 1959 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin ist die Alleinerbin ihres am 13. Mai 1878 geborenen und am 12. Mai 1958 verstorbenen Vaters. Sie macht die auf sie im Wege der Erbfolge übergegangene Forderung ihres Vaters auf Elternrente vom 1. März 1957 bis 31. Juli 1957 geltend. Der Vater der Klägerin war am 9. März 1957 aus der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) in das Bundesgebiet eingereist und hatte am 13. März 1957 beim Versorgungsamt (VersorgA) Elternrente nach seinem kriegsverschollenen Sohn Helmut beantragt und am 20. August 1957 um die Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 1 des Notaufnahmegesetzes beim Aufnahmeausschuß Gießen nachgesucht und diese am 26. September 1957 erteilt erhalten. Die Verwaltung lehnte mit Bescheid vom 20. Dezember 1957 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 1958 den für die Zeit vom 1. März bis 31. Juli 1957 geltend gemachten Elternrentenanspruch ab, weil der Erlaß des Bundesministers für Arbeit (BMA) vom 31. Oktober 1956 - Va 7204/56 - (BVBl 1956, 190) entgegenstehe. Danach ist die Aufenthaltserlaubnis nicht weiter zurückzugewähren als bis zum Beginn des Monats, in dem die Aufenthaltserlaubnis beantragt worden ist. Auf die Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) Ulm am 30. Juni 1959 den Beklagten, der Klägerin Elternrente für die Monate März 1957 bis Juli 1957 zu gewähren. Das SG ließ die Berufung zu. Es führte aus: Der Vater der Klägerin habe seit Anmeldung des Anspruchs auf Elternrente befugt Wohnsitz im Bundesgebiet. Zwar sei nicht nachweisbar, daß er bereits eine Zuzugsgenehmigung erhalten habe, aber durch die nachgewiesene Aufenthaltserlaubnis vom 26. September 1957 halte er sich seit Beginn des tatsächlichen Aufenthalts befugt im Bundesgebiet auf. Die nicht begrenzte Erlaubnis vom 26. September 1957 sei eine deklaratorische Entscheidung, welche den Tatbestand des Aufenthalts von Anfang an ergreife. Der Erlaß des BMA vom 16. November 1956 (muß heißen: 31. Oktober 1956), der nur eine begrenzte Rückwirkung zulasse, sei mit den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts nicht vereinbar.

Gegen dieses, dem Beklagten am 7. Juli 1959 zugestellte Urteil legte das Landesversorgungsamt (LVersorgA) Baden-Württemberg am 25. Juli 1959 mit schriftlicher Zustimmung der Klägerin Sprungrevision ein. Der Beklagte beantragt,

die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamts Ulm vom 20. Dezember 1957 in der Fassung vom 12. Mai 1958 abzuweisen.

Die Revision rügt Verletzung des § 7 Nr. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Der Vater der Klägerin sei erst am 9. März 1957 in das Bundesgebiet gekommen, habe am 13. März 1957 Antrag auf Elternrente nach seinem vermißten Sohn Helmut gestellt und habe erst am 20. August 1957 die Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt beantragt. Für den Beginn der Leistung sei nicht der Monat der Antragstellung auf Versorgungsrente, sondern der Monat maßgebend, in dem der Antrag auf Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet gestellt worden sei. Die dem verstorbenen Vater vom Landratsamt Ulm am 2. Dezember 1956 erteilte "Zuzugsgenehmigung" sei hinfällig geworden, weil der Vater der Klägerin zu dieser Zeit in der SBZ war. Die rechtmäßige Zuzugsgenehmigung sei am 13. Februar 1958 erteilt worden. Der Aufenthalt des Vaters der Klägerin müsse zunächst als vorübergehend angesehen werden, weil er nicht auf dem Fluchtwege in das Bundesgebiet gekommen sei. Der Entschluß, dauernd im Bundesgebiet Aufenthalt zu nehmen, sei erst im Laufe des Aufenthalts entstanden und nicht vor dem Antrag vom 20. August 1957 erkennbar geworden. Nach dem Erlaß des BMA vom 31. Oktober 1956 müsse daher der August 1957 als Beginn des befugten Aufenthalts angesehen werden. Dieser Zeitpunkt könne nach diesem Erlaß des BMA um nicht mehr als einen Monat vorverlegt werden.

Die Klägerin hat keinen Sachantrag gestellt.

Nach § 161 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann ein Beteiligter in Fällen, in denen das Urteil des SG nach § 150 SGG mit der Berufung anfechtbar ist, unter Übergehung des Berufungsverfahrens die Revision unmittelbar beim Bundessozialgericht - BSG - (Sprungrevision) einlegen, wenn der Rechtsmittelgegner schriftlich einwilligt. Diese prozeßrechtlichen Voraussetzungen sind hier erfüllt (SozR SGG § 161 Bl. Da 6 Nr. 14). Die Sprungrevision, welche die zugelassene Berufung ersetzt, ist daher durch Zulassung statthaft (Rohwer-Kahlmann SGG § 161 Randzeile 13). Sie ist auch zulässig, jedoch unbegründet.

Die Revision rügt, das SG habe § 7 Nr. 1 BVG dadurch verletzt, daß es zu Unrecht unterstellt habe, daß der Vater der Klägerin seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt befugt im Bundesgebiet während der streitbefangenen Zeit gehabt habe. Nach dem Vorbringen der Revision ist streitig, ob der Vater der Klägerin mit der Zureise aus der SBZ in die Bundesrepublik seinen Wohnsitz oder seinen ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik genommen hat.

Nach § 7 Nr. 1 BVG in der hier maßgeblichen Fassung vor dem Ersten Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 (BGBl I, 453) findet das Gesetz Anwendung auf Deutsche, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt befugt im Bundesgebiet haben. Die Sachverhaltsvoraussetzung für die Anwendung des BVG "Wohnsitz oder befugter ständiger Aufenthalt in der Bundesrepublik" sind Rechtsbegriffe; sie sind aber auch ein Sachverhalt, dessen Vorliegen die Verwaltungsbehörde vor Anwendung des BVG zu prüfen und das Gericht im Streitverfahren festzustellen hat. Ohne daß die Revision ausdrücklich eine Verfahrensrüge (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) erhoben hat, ist der Rüge wegen Verletzung des § 7 BVG zu entnehmen, daß auch die Feststellung des SG dahin angegriffen wird, daß das SG Wohnsitz und ständigen Aufenthalt des Vaters der Klägerin als beweis- und rechtserheblichen Tatbestand zu Unrecht dem ermittelten Sachverhalt (Akteninhalt) entnommen habe. Wenn die Revision auch nicht die verletzte Vorschrift (Recht auf freie Beweiswürdigung nach § 128 SGG) anführt, so genügen doch die vorgetragenen Tatsachen, um zu erkennen, daß die Revision die Beweiswürdigung insoweit angreift, als das SG Wohnsitz und ständigen Aufenthalt des Vaters der Klägerin seit 9. März 1957 unterstellt hat (vgl. BSG 1, 227). Der Senat hat also nachzuprüfen, ob das SG aus dem ermittelten Sachverhalt zu dem Ergebnis kommen konnte, daß der Vater der Klägerin im März 1957 nicht nur vorübergehenden Aufenthalt, sondern ständigen Aufenthalt oder Wohnsitz in Ulm genommen hat.

Wie der 8. Senat des BSG bereits entschieden hat (BSG 4, 178), entspricht der Begriff des Wohnsitzes in § 7 BVG dem des bürgerlichen Rechts. Danach ist er der gewählte und gewollte dauernde räumliche Mittelpunkt des gesamten Lebens (ebenso Palandt, BGB 1958 § 7 Anm. 1; RGZ 67, 193). Der vom Wohnsitz zu unterscheidende dauernde oder ständige Aufenthalt ist der Ort der tatsächlichen Anwesenheit, in dem für längere Zeit Wohnung genommen wird, ohne den Willen, sich an dem Ort rechtlich oder tatsächlich auch niederzulassen.

Im vorliegenden Fall hat der Vater der Klägerin, wie das SG zutreffend festgestellt hat, für den Fall einer landesbehördlich erteilten Zuzugsgenehmigung befugt Aufenthalt genommen. Unter landesbehördlicher Zuzugsgenehmigung konnte das SG nur verstehen entweder: die nach § 1 des Gesetzes über die Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet vom 22. August 1950 (BGBl S. 367) für den ständigen Aufenthalt erforderliche besondere Erlaubnis oder die schon vor Zuzug erteilte Genehmigung für den Aufenthalt im Geltungsbereich des Notaufnahmegesetzes. Wie das BSG bereits entschieden hat, liegt ein befugter ständiger Aufenthalt im Bundesgebiet vor, wenn der Aufenthalt durch eine zuständige Behörde bewilligt worden ist. Es kann indes hier dahingestellt bleiben, ob die 1956 erteilte und zur Zeit der Entscheidung des SG nicht erweisliche Zuzugsgenehmigung noch 1957 wirksam war. Jedenfalls ist dem Vater der Klägerin am 26. September 1957 Aufenthaltserlaubnis erteilt worden. Diese Aufenthaltserlaubnis wirkt grundsätzlich auf den Tag der tatsächlichen Aufenthaltsnahme (9. März 1957) zurück. Dies ergibt sich daraus, daß die Freizügigkeit dieses Personenkreises nicht aufgehoben ist (BVerfGE 2, 266). Nach dem Erlaß des BMA vom 31. Oktober 1956 (BVBl S. 190 Nr. 97) wird zwar mit der nachträglichen Erteilung der Erlaubnis nur festgestellt, daß der Aufenthalt im Bundesgebiet vom Antrag an als befugt mit Beginn des Monats anzusehen ist, in dem der zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis führende Antrag gestellt worden ist. Zu dieser Auffassung kommt der Erlaß, nachdem er es für unbedenklich hält, als Zeitpunkt des Beginns des befugten Aufenthalts die tatsächliche Aufenthaltsnahme in der Bundesrepublik zu betrachten, sofern innerhalb einer angemessenen Frist nach der Einreise um die Aufenthaltserlaubnis nachgesucht wird. Dabei hält der Erlaß eine Frist von etwa einem Monat noch für angemessen. Das SG hat im vorliegenden Fall eine weitergehende Rückwirkung bis zum Tage der Einreise (9. März 1957) deshalb für angemessen gehalten, weil der Vater der Klägerin subjektiv und - wie sich später herausstellte - auch objektiv bereits sich im Besitz einer Zuzugsgenehmigung halten konnte. Die Revision kann sich auch nicht darauf berufen, daß die Zuzugsgenehmigung des Landratsamts Ulm vom 2. Dezember 1956 nicht von der zuständigen Behörde erteilt worden sei. Denn es ist nicht auszuschließen, daß der Vater der Klägerin auf Grund dieser Genehmigung sich erst entschlossen hat, in die Bundesrepublik zu reisen; der Vater der Klägerin konnte der Zuzugsgenehmigung vertrauen und sein Vertrauen muß daher dahin geschützt werden, daß er im Vertrauen auf die Gültigkeit dieser Genehmigung seinen Wohnsitz geändert und seinen Lebensmittelpunkt gewechselt hat. Mit Rücksicht auf den dem Vater der Klägerin zu gewährenden Vertrauensschutz ist daher die Wartezeit vom 9. März bis 20. August 1957 nicht als unangemessen lang im Sinne des Erlasses des BMA vom 31. Oktober 1956 anzusehen. Das SG hat zwar nicht einwandfrei ermittelt, ob der Vater der Klägerin von Anfang an die Absicht hatte, seinen ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik zu nehmen, oder ob er unter Umständen wieder in die SBZ zurückkehren wollte. Aber es hat festgestellt, daß er tatsächlich in der Bundesrepublik Aufenthalt genommen hat und hier bis zu seinem Tode am 12. Mai 1958 verblieben ist. Eine zeitliche Begrenzung des Aufenthalts ist aus dem Sachverhalt nicht erkennbar, was dafür spricht, daß ständiger Aufenthalt beabsichtigt war (vgl. Wilke, BVG Komm. 1960 § 7 Anm. 2 b S. 80). Das SG konnte daher im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aus seiner nachträglichen Schau feststellen, daß der Vater der Klägerin von Anfang an in der Bundesrepublik seinen ständigen Aufenthalt befugt genommen hat. Darauf, ob der Vater der Klägerin auch schon seinen Wohnsitz im Sinne des § 7 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im März 1957 in Ulm begründet hat, kommt es nicht mehr an, nachdem das SG die Voraussetzung des ständigen Aufenthalts bejahen konnte. Mit dem festgestellten "ständigen Aufenthalt" im Bundesgebiet hat das SG auch das Tatbestandsmerkmal in § 7 Nr. 1 BVG bejaht, von dem die Rechtsfolge der Anwendung des BVG abhängt.

Das SG hat mithin der Klägerin Rente für die Zeit vom 9. März bis Ende Juli 1957 ohne Rechtsirrtum zugesprochen. Ob auch der Anspruch auf Elternrente für die Zeit vom 1. März bis einschließlich 8. März 1957 gerechtfertigt ist, könnte zweifelhaft sein, weil der Vater der Klägerin im ersten Viertel des Monats März 1957 noch nicht in der Bundesrepublik ansässig war. Wenn auch die Revision in dieser Richtung das Urteil des SG nicht angegriffen hat, so hat doch das Revisionsgericht bei einer zugelassenen Revision Verletzungen des materiellen Rechts in vollem Umfang und unabhängig von etwaigen Rügen der Beteiligten nachzuprüfen (BSG 3, 186). Da eine Elternversorgung in der SBZ nicht besteht (Caesar, Sozialversicherungsrecht in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone, herausgegeben vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1958 S. 115), scheidet die Möglichkeit eines Doppelbezugs der Elternrente aus. Die Gewährung der Elternrente ab 1. März 1957 verstößt auch nicht gegen eine andere Vorschrift. Wird nämlich ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wozu die Elternrente rechnet (vgl. Wilke, BVG-Komm. § 61 Anm. I), erst nach Ablauf eines Jahres nach dem Tode, wie hier, beantragt, so beginnt die Rente mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat (§ 61 Abs. 2 BVG). Da noch vor Ablauf des Monats März 1957 die Voraussetzungen erfüllt waren und der Antrag gestellt wurde, steht der Klägerin die Elternrente bereits ab 1. März 1957 zu.

Mithin hat das SG ohne Fehler in der Beweiswürdigung (§ 128 SGG) festgestellt, daß der Vater der Klägerin seit 9. März 1957 befugt ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik hatte; es konnte daher ohne Rechtsirrtum nach § 7 Nr. 1 BVG dem Vater der Klägerin die ihm unstreitig zustehende Elternrente (§ 49 BVG) vom 1. März 1957 an zusprechen. Sonach erweist sich das Urteil des SG als zutreffend.

Die Sprungrevision des Beklagten war somit als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2277311

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