Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausfüllung einer Gesetzeslücke. Analogie. Anrechnung einer Ausfallzeit

 

Leitsatz (amtlich)

Die Beschränkungen beim Leistungsbezug in der Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte für denjenigen, der eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt (§§ 1247 Abs 2 S 3, 1259 Abs 1 S 5 RVO, §§ 24 Abs 2 S 3, 36 Abs 1 S 5 AVG) gelten in der knappschaftlichen Rentenversicherung entsprechend.

 

Orientierungssatz

1. Nach der Rechtsprechung des BSG ist der Richter zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke dort berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es der Rechtsprechung überlassen wollte, das Recht zu finden oder das Schweigen des Gesetzes auf einem Versehen oder darauf beruht, daß sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach dem Erlassen des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat (vgl BSG vom 12.2.1975 12 RJ 184/73 = BSGE 39, 143, 146 = SozR 2200 § 1251 Nr 11; vgl BSG 22.5.1985 1 RS 1/84 = BSGE 58, 110, 114 = SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 6).

2. Eine analoge Anwendung des Gesetzes auf gesetzlich nicht umfaßte Sachverhalte ist dann geboten, wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nicht geregelten Fall hätte einbeziehen müssen. Dieses Gebot beruht auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln (vgl BSG 24.10.1984 6 RKa 36/83 = BSGE 57, 195).

3. Arbeitslosigkeit kann auch in der knappschaftlichen Rentenversicherung nicht als Ausfallzeit angerechnet werden, wenn während der Zeit der Arbeitslosigkeit eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird.

 

Normenkette

RKG § 57 S 1 Nr 3; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 3; RKG § 47 Abs 2; RVO § 1247 Abs 2 S 3; AVG § 24 Abs 2 S 3, § 36 Abs 1 S 1 Nr 3; RVO § 1259 Abs 1 S 5 Fassung: 1972-10-16; AVG § 36 Abs 1 S 5 Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.09.1985; Aktenzeichen L 2 Kn 15/85)

SG Dortmund (Entscheidung vom 15.11.1984; Aktenzeichen S 24 Kn 148/84)

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Rente des Klägers unter Berücksichtigung einer Ausfallzeit vom 7. Dezember 1978 bis zum 19. November 1983 zu erhöhen ist.

Der Kläger war bis Ende Mai 1978, zuletzt als Maschinenhauer, knappschaftlich versichert. Neben seiner Tätigkeit im Bergbau war er seit September 1970 Inhaber eines Gewerbescheins als selbständiger Dolmetscher und Übersetzer für die rumänische und ungarische Sprache. Als Gerichtsdolmetscher ist er seit 1974 vereidigt und zugelassen. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bergbau bezog der Kläger zunächst bis Ende November 1978 Anpassungsgeld. Mit Bescheid vom 25. September 1978 gewährte ihm die Beklagte ab 1. Dezember 1978 Knappschaftsausgleichsleistung. Vom 7. Dezember 1978 bis zum 19. November 1983 war der Kläger beim zuständigen Arbeitsamt als Arbeitssuchender gemeldet. Dort bestanden keine Bedenken gegen seine Verfügbarkeit. Seinen Antrag, ihm Ruhegeld wegen Vollendung des 60. Lebensjahres und Arbeitslosigkeit zu gewähren, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 28. Dezember 1983 (bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 30. April 1984) ab, da der Kläger nicht arbeitslos sei, solange er noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe. Mit einem weiteren Bescheid vom selben Tage wandelte sie die Knappschaftsausgleichsleistung ab 1. Dezember 1983 in Knappschaftsruhegeld wegen Vollendung des 60. Lebensjahres und Erfüllung besonderer Wartezeit um. Dabei ließ die Beklagte die Zeit vom 7. Dezember 1978 bis zum 19. November 1983 als Ausfallzeit infolge Arbeitslosigkeit ebenfalls wegen der selbständigen Tätigkeit unberücksichtigt. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. April 1984).

Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide vom 28. Dezember 1983 und 30. April 1984 abgeändert und die Beklagte verurteilt, die streitige Zeit als Ausfallzeit anzuerkennen, der Berechnung des Ruhensgeldes zugrunde zu legen und darüber einen Bescheid zu erteilen (Urteil vom 15. November 1984). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. September 1985). Die Bestimmung des § 1259 Abs 1 Satz 5 der Reichsversicherungsordnung -RVO- (= § 36 Abs 1 Satz 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG-), wonach Arbeitslosigkeit im Sinne Nr 3 des § 1259 Abs 1 Satz 1 RVO nicht vorliege, solange noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt werde, sei im Recht der knappschaftlichen Rentenversicherung nicht enthalten. Sie sei jedoch analog anzuwenden. Eine selbständige Erwerbstätigkeit sei auch nicht in entsprechender Anwendung der §§ 101, 102 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) außer Betracht zu lassen, wenn sie geringfügig sei. Das lasse § 8 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB 4) nicht zu. Bei Selbständigen sei nicht auf den Umfang der Tätigkeit abzustellen.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt die unrichtige Anwendung des § 57 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG). Ausschließlich nach dieser Vorschrift, deren Voraussetzungen erfüllt seien, richte sich hier die Anrechnung der streitigen Ausfallzeit.

Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Bei der Berechnung des ihm von der Beklagten gewährten Knappschaftsruhegeldes ist die Zeit der Arbeitslosigkeit vom 7. Dezember 1978 bis zum 19. November 1983 nicht als Ausfallzeit zu berücksichtigen.

Nach § 57 Satz 1 Nr 3 RKG zählen zu den Ausfallzeiten unter bestimmten Voraussetzungen solche Zeiten, in denen eine knappschaftlich versicherungspflichtige Beschäftigung durch eine mindestens einen Kalendermonat andauernde Arbeitslosigkeit unterbrochen worden ist. Gleichlautende Regelungen sind für den Bereich der Arbeiterrentenversicherung in § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 3 RVO und für die Angestelltenversicherung in § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AVG enthalten. Für die beiden zuletzt genannten Versicherungszweige gilt jedoch nach § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO bzw § 36 Abs 1 Satz 5 AVG, daß Arbeitslosigkeit im Sinne der Nr 3 nicht vorliegt, solange noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Dieser Satz 5 ist in die genannten Bestimmungen der RVO und des AVG durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I, 1965) eingefügt worden, jedoch nicht in § 57 RKG. Während der Kläger also die Voraussetzungen der Vorschrift betreffend die Ausfallzeit infolge Arbeitslosigkeit in der knappschaftlichen Rentenversicherung ihrem Wortlaut nach erfüllt, würde ihm in der Arbeiterrentenversicherung oder in der Angestelltenversicherung eine solche Ausfallzeit nicht zuerkannt werden können. Denn er hat während der streitigen Zeit eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt. Das hat das LSG festgestellt und dagegen wendet sich der Kläger nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen, so daß der erkennende Senat gemäß § 163 SGG an diese Feststellungen gebunden ist. Die insoweit übereinstimmende Regelung in § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO und § 36 Abs 1 Satz 5 AVG ist im Recht der knappschaftlichen Rentenversicherung entsprechend anzuwenden. Das hat das LSG zutreffend entschieden.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Richter zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke dort berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es der Rechtsprechung überlassen wollte, das Recht zu finden oder das Schweigen des Gesetzes auf einem Versehen oder darauf beruht, daß sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach dem Erlassen des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat (so BSGE 39, 143, 146 = SozR 2200 § 1251 Nr 11; vgl auch BSGE 58, 110, 114 f = SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 6). Zur analogen Anwendung des Gesetzes auf gesetzlich nicht umfaßte Sachverhalte hat das BSG in der Entscheidung vom 24. Oktober 1984 (BSGE 57, 195, 196 = SozR 1500 § 149 Nr 7) ausgeführt, diese sei dann geboten, wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nicht geregelten Fall hätte einbeziehen müssen. Dieses Gebot beruhe letztlich auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln. Was nun die im Vergleich zur Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestelltenversicherung fehlende Regelung in § 57 RKG betrifft, wonach eine selbständige Erwerbstätigkeit Arbeitslosigkeit im Sinne der Nr 3 ausschließt, so beruht das Schweigen des Gesetzes auf einem Versehen. Das RRG aus dem Jahre 1972 hat unter anderem die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige gebracht. Davon ist jedoch grundsätzlich die knappschaftliche Rentenversicherung ausgenommen worden. Sie sollte ihren Charakter als eigenständige Versicherung der Arbeitnehmer des Bergbaus behalten. Jede Durchlässigkeit zugunsten von Personengruppen ohne enge Beziehungen zum Bergbau hätten diese Sonderstellung beeinträchtigt (vgl Ilgenfritz, Besondere Regelungen des RRG in der knappschaftlichen Rentenversicherung, "Der Kompaß" 1972, 330). Hinsichtlich der Auswirkungen dieser Öffnung der Rentenversicherung hätte es jedoch bestimmter Regelungen im RKG bedurft, wie sie etwa in § 1259 Abs 1 Satz 5 und § 1247 Abs 2 Satz 3 RVO enthalten sind. Nach der zuletzt genannten Bestimmung ist nicht erwerbsunfähig, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Insoweit ist die Abstimmung der Parallelvorschriften im RKG im Vergleich zur RVO und zum AVG unterblieben (vgl Ilgenfritz aaO). In der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbständige (BT-Drucks VI/2153 Seite 9) heißt es ganz allgemein: "Eine Erwerbsunfähigkeit gilt nicht als gegeben, wenn noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird". Es fehlt jeder Hinweis darauf, das das in der knappschaftlichen Rentenversicherung anders sein soll.

Die Regelungsabsicht des Gesetzgebers, mit der Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige diese vom Bezug der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auszuschließen und ihnen keine Ausfallzeit wegen Arbeitslosigkeit zuzubilligen, solange sie noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, trifft in gleicher Weise auf die knappschaftliche Rentenversicherung zu. Wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage hätte der Gesetzgeber auch in das RKG gleichlautende Regelungen wie in die RVO und das AVG, einfügen müssen. Diese Gesetzeslücke ist verfassungskonform unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes in Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) dahingehend zu füllen, daß § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO und § 36 Abs 1 Satz 5 AVG in der knappschaftlichen Rentenversicherung analog anzuwenden sind. Insoweit bieten die Besonderheiten der eigenständigen Versicherung von Bergleuten keine Handhabe diese anders zu behandeln und besser zu stellen als die Versicherten in den beiden anderen Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherung.

Bei einer rein am Wortlaut des RKG orientierten Betrachtungsweise würde ein Wanderversicherter, der - medizinisch gesehen - erwerbsunfähig ist aber noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der knappschaftlichen Rentenversicherung erhalten, nicht dagegen aus der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (§ 101 Abs 1 RKG). Hätte das in der Absicht des Gesetzgebers gelegen, so hätte bei der Bedeutung einer solchen Änderung im System der Wanderversicherung eine Klarstellung erwartet werden können. Auch dieser Gesichtspunkt spricht für eine prinzipielle Gleichstellung der Selbständigen beim Leistungsbezug in sämtlichen Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die somit gebotene Analogie führt dazu, daß der Kläger die streitige Zeit der Arbeitslosigkeit nicht als Ausfallzeit angerechnet bekommen kann, wenn er damals noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat. Das hat das LSG zutreffend bejaht. Nach der Rechtsprechung des BSG übt ein Versicherter eine selbständige Erwerbstätigkeit aus, wenn er im eigenen Namen und auf eigene Rechnung erwerbstätig ist (so BSGE 39, 152, 153 = SozR 5750 Art 2 § 52 Nr 1; BSGE 45, 238, 239 = SozR 2200 § 1247 Nr 19). Nicht erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO ist der selbständig Erwerbstätige auch, wenn er durch die Tätigkeit nur noch geringfügige oder nahezu unbedeutende Einkünfte erzielt (BSGE 51, 190 = SozR 2200 § 1247 Nr 32). Das gilt sogar ohne Rücksicht auf den Umfang und die Erträge selbständiger Erwerbstätigkeit (BSG in SozR 2200 § 1247 Nr 34) oder wenn sie auf Kosten der Gesundheit ausgeübt wird (BSGE 55, 254, 256 = SozR 5850 § 2 Nr 11). In der zuletzt genannten Entscheidung hat das BSG zudem dargelegt, daß dadurch Art 3 Abs 1 GG nicht verletzt wird. Soweit die genannten Entscheidungen zu § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO ergangen sind, können sie ohne weiteres auf § 1259 Abs 1 Satz 5 RVO übertragen werden, da der gesetzgeberische Zweck insoweit gleich ist.

Da somit die vom LSG unangegriffen festgestellte selbständige Erwerbstätigkeit des Klägers die Anrechnung der begehrten Ausfallzeit ausschließt, kann seine Revision keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 176

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