Entscheidungsstichwort (Thema)

Beginn des Anrechnungszeitraums iS von § 48 Abs 1 S 3 SGB 10

 

Leitsatz (amtlich)

Nimmt ein Kind, das bereits das 16. Lebensjahr vollendet hat, während eines laufenden Monats eine Beschäftigung auf, so ist das Kindergeld für diesen Monat ohne Rücksicht auf die Höhe des Arbeitsentgelts weiterzuzahlen.

 

Orientierungssatz

1. Beginn des Anrechnungszeitraums iS des § 48 Abs 1 S 3 SGB 10 ist der Beginn des Bezugszeitraums der rückwirkend bewilligten zweiten Sozialleistung (vgl BSG vom 6.11.1985 10 RKg 3/84 = BSGE 59, 111 = SozR 1300 § 48 Nr 19).

2. Ob § 48 Abs 1 S 3 SGB 10 auf den Bezug von Arbeitsentgelt anwendbar ist, bleibt offen.

 

Normenkette

BKGG § 2 Abs 4 S 2 Nr 3, § 9 Abs 1 Halbs 2; SGB 10 § 48 Abs 1 S 3

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.09.1987; Aktenzeichen L 9 Kg 1377/87)

SG Ulm (Entscheidung vom 21.05.1987; Aktenzeichen S 8 Kg 1721/86)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Bewilligung von Kindergeld für den Monat April 1986 rückwirkend teilweise aufheben durfte.

Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er bezog ab Januar 1985 für seine drei Kinder Luisa (geboren 1966), Salvatorina (geboren 1968) und Gaetano (geboren 1970) Kindergeld. Am 15. April 1986 nahm Luisa eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf, aus der sie im Monat April 1986 ein Bruttoentgelt in Höhe von 625,11 DM und ab Mai 1986 ein monatliches Bruttoentgelt von 1.250,21 DM erzielte. Hiervon unterrichtete der Kläger die Beklagte auf deren Anfrage vom 11. April 1986 mit der am 9. Mai 1986 eingegangenen Erklärung vom 29. April 1986. Nach Anhörung hob die Beklagte mit Bescheid vom 12. Juni 1986 die Bewilligung des Kindergeldes für den Monat April 1986 in Höhe von 220,-- DM und ab Mai 1986 in Höhe von 220,-- DM monatlich auf und forderte die Rückzahlung von Kindergeld in Höhe von insgesamt 220,-- DM. Luisa könne nicht mehr berücksichtigt werden, weil sie das 16. Lebensjahr vollendet habe und die Voraussetzung von § 2 Abs 4 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) aufgrund des bereits ab April 1986 erzielten Arbeitsentgelts in Höhe von wenigstens 400,-- DM netto monatlich weggefallen sei. Besondere Umstände, die der rückwirkenden Aufhebung der Bewilligung des Kindergeldes entgegenstünden, lägen nicht vor. Der hiergegen gerichtete Widerspruch wurde mit Bescheid vom 17. Oktober 1986 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten mit der Klarstellung zurückgewiesen, daß der Bescheid der Beklagten vom 12. Juni 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1986 insoweit aufgehoben ist, als hierdurch die Bewilligung von Kindergeld für das Kind Luisa im Monat April 1986 rückwirkend aufgehoben und die Erstattung des für diesen Monat gewährten Kindergeldes in Höhe von 220,-- DM verlangt worden ist. Es hat zur Begründung seiner Entscheidung ua ausgeführt, der Kläger habe für den Monat April 1986 noch für seine Tochter Luisa Anspruch auf Kindergeld gehabt. Dies ergebe sich aus § 9 Abs 1 2. Halbsatz BKGG. Danach werde das Kindergeld bis zum Ende des Monats gewährt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen weggefallen seien. Der Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen sei aber erst am 15. April 1986 mit der Aufnahme der Beschäftigung eingetreten. Daraus, daß das Kind schon im Monat April ein Arbeitsentgelt von über 400,-- DM gehabt habe, könne - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht geschlossen werden, der Anspruch auf Kindergeld sei bereits für den Monat April entfallen. Die Beklagte verkenne dabei offensichtlich, daß § 9 Abs 1 2. Halbsatz BKGG das Kindergeld bis zum Ende eines Kalendermonats weitergewähre, obwohl die Anspruchsvoraussetzungen im Laufe dieses Monats weggefallen seien. Auch aus der Vorschrift des § 48 Abs 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) lasse sich nichts anderes herleiten. Die Befugnis zur Aufhebung eines bindend gewordenen Verwaltungsakts mit Dauerwirkung knüpfe hiernach an das Eintreten einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen an. Eine Änderung der Verhältnisse im Sinne dieser Bestimmung sei jedoch nicht bereits dann eingetreten, wenn die Berücksichtigungsfähigkeit eines Kindes weggefallen sei. Diese liege vielmehr erst dann vor, wenn der Anspruch selbst nicht mehr bestehe. Wie lange der Anspruch aber bestehe, regele nicht § 2 Abs 4 Satz 2 BKGG, sondern § 9 Abs 1 2. Halbsatz BKGG.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 9 Abs 1 und des § 2 Abs 4 Satz 2 Nr 3 BKGG sowie des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X. Zwar habe die Tochter des Klägers in der Zeit vom 1. bis zum 14. April 1986 noch die Voraussetzungen des § 2 Abs 4 Satz 1 Nr 2 BKGG erfüllt. Gleichwohl werde ihre Berücksichtigung gemäß § 2 Abs 4 Satz 2 BKGG ausgeschlossen, da sie in diesem Monat eine Vergütung von wenigstens 400,-- DM netto erhalten habe. Damit habe aber während des gesamten Monats kein Kindergeldanspruch bestanden, so daß auch die Vorschrift des § 9 Abs 1 BKGG nicht angewendet werden könne. Denn diese Bestimmung setze voraus, daß der Kindergeldanspruch wenigstens an einem Tage des Monats bestehe. Zwar sei hier erst im Laufe des Monats April 1986 durch die Arbeitsaufnahme der Ausschlußtatbestand des § 2 Abs 4 Satz 2 BKGG verwirklicht worden. Dies ändere aber nichts daran, daß der Anspruch danach für den gesamten Monat ausgeschlossen gewesen sei. Die Kindergeldbewilligung sei auch zu Recht gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X ab April 1986 aufgehoben worden. Der Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse sei in diesen Fällen nach § 48 Abs 1 Satz 3 SGB X der Beginn desjenigen Monats, in dem das den Anspruch vernichtende Einkommen oder Vermögen erzielt worden sei. Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 6. November 1985 (BSGE 59, 111) in einem Fall der rückwirkenden Aufhebung einer Kindergeldbewilligung für ein behindertes Kind entschieden, das seinerseits durch eine rückwirkende Rentenzahlung in die Lage versetzt worden sei, sich im Zeitraum der Kindergeldzahlung selbst zu unterhalten. Zwar betreffe der vorliegende Rechtsstreit nicht einen Fall des Tatbestandes des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG. Aus den die Entscheidung des BSG tragenden Gründen gehe jedoch hervor, daß die zugrundeliegende Rechtsfrage die gleiche sei. Beiden gesetzlichen Regelungen liege die Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, Kinder mit eigenem Einkommen seien von einer bestimmten Höhe an nicht mehr in dem Maße auf Unterhaltsleistungen ihrer Eltern angewiesen, daß diese hierfür eines teilweisen Ausgleichs in Gestalt des Kindergeldes bedürften. Während für diese Erwägung bei der Kindergeldgewährung für behinderte Kinder der individuelle Lebensbedarf des Kindes zugrunde gelegt sei, habe der Gesetzgeber bei der Berücksichtigung arbeitsloser und ausbildungsstellensuchender Kinder in § 2 Abs 4 Satz 2 BKGG in typisierender Form eine bestimmte Einkommensgrenze festgelegt. Sei diese - individuelle oder typisierend festgesetzte - Einkommensgrenze in einem Monat überschritten, stelle sich für beide Fallgestaltungen im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 3 BKGG die Frage nach dem Beginn des Anrechnungszeitraumes in gleicher Weise. Das BSG habe sich hierbei nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung für eine ausweitende Auslegung des § 48 Abs 1 Satz 3 SGB X entschieden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. September 1987 und das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21. Mai 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und macht ergänzend geltend, die Aufhebung der Kindergeldbewilligung aufgrund der Arbeitsaufnahme seiner Tochter am 15. April 1986 widerspreche dem eindeutigen Wortlaut des § 9 Abs 1 2. Halbsatz BKGG. Die von der Beklagten zitierte Entscheidung des BSG sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Es gehe um unterschiedliche Regelungen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben zu Recht angenommen, daß die Bewilligung von Kindergeld nicht für den Monat April 1986 aufgehoben werden durfte und daß die Voraussetzungen für die Rückforderung von Kindergeld für diesen Monat nicht erfüllt sind.

Nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß des Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlaß des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X). Die Beteiligten gehen zu Recht davon aus, daß es sich bei der von der Beklagten aufgehobenen Kindergeldbewilligung um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt. Für den Monat April 1986 ist indessen - entgegen der Auffassung der Beklagten - eine wesentliche Änderung, die zur Aufhebung der Bewilligung für diesen Monat berechtigen würde, nicht eingetreten. Insbesondere kann die wesentliche Änderung nicht darin gesehen werden, daß Luisa am 15. April 1986 eine Beschäftigung aufnahm und noch für den laufenden Monat ein Nettoentgelt von über 400,-- DM bezog.

Zwar dürfen Kinder, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, gemäß § 2 Abs 4 Satz 2 Nr 3 BKGG nicht berücksichtigt werden, wenn sie monatlich wenigstens 400,-- DM aus einer Erwerbstätigkeit nach Verminderung um die Steuern und gesetzlichen Abzüge beziehen. Diese Vorschrift ist aber bei laufendem Bezug durch § 9 Abs 1 2. Halbsatz BKGG eingeschränkt. Danach wird das Kindergeld bis zum Ende des Monats gewährt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfallen, so daß der Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen während des Monats sich erst im folgenden Monat auswirkt. Das bedeutet aber auch, daß die wesentliche Änderung iS von § 48 Abs 1 SGB X erst mit Ablauf des Monats eintritt.

Zu Unrecht beruft sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf § 48 Abs 1 Satz 3 SGB X. Danach gilt als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum aufgrund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes. Der Senat kann offenlassen, ob die Vorschrift überhaupt auf den Bezug von Arbeitsentgelt anwendbar ist. Selbst wenn das der Fall sein sollte, wären die Voraussetzungen für die Aufhebung der Bewilligung nicht für den Monat April 1986 gegeben. Denn der Klägerin ist das Arbeitsentgelt nur für die Zeit ab Arbeitsaufnahme, dh ab 15. April 1986 gezahlt worden. Weder § 48 Abs 1 Satz 3 SGB X noch eine andere Vorschrift rechtfertigten es, das Arbeitsentgelt auf einen Zeitraum anzurechnen, der vor der Arbeitsaufnahme liegt. Mit § 48 Abs 1 Satz 3 SGB X wollte der Gesetzgeber den Doppelbezug von Sozialleistungen verhindern, der dadurch entstehen kann, daß rückwirkend für einen Zeitraum eine Sozialleistung gewährt wird, für die der Berechtigte bereits eine andere Sozialleistung erhalten hat. Hier soll die Möglichkeit einer Korrektur bestehen, indem § 48 Abs 1 Satz 3 SGB X im Wege der Fiktion als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse den Beginn des Anrechnungszeitraumes festlegt. Hiervon ist auch der erkennende Senat in dem von der Beklagten zitierten Urteil vom 6. November 1985 (- 10 RKg 3/84 - BSGE 59, 111, 113 f) ausgegangen. Der Senat hat in dem damaligen Fall die Vorschrift nicht anders als hier ausgelegt. Ihm ist lediglich entgangen, daß die dem behinderten Kind zuerkannte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht wie üblich am Monatsersten, sondern als Rente auf Zeit erst am 9. November 1980 begann, so daß deshalb bei der Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 3 SGB X nicht als Beginn des Anrechnungszeitraums - wie geschehen (vgl BSGE 59, 111, 113) - der 1. November 1980 zugrunde gelegt werden durfte. Beginn des Anrechnungszeitraums iS der genannten Vorschrift ist nämlich der Beginn des Bezugszeitraums der rückwirkend bewilligten zweiten Sozialleistung (BSGE 59, 111, 114). Die Revision der Beklagten konnte nach alledem keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665301

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