Entscheidungsstichwort (Thema)

Verböserungsverbot. Verbot der reformatio in peius im Widerspruchsverfahren. Prüfzeitpunkt bei Anfechtungsklagen. Gesamt-GdB. Einzel-GdB. richterliche Prüf- und Beurteilungskompetenz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur reformatio in peius im Widerspruchsverfahren.

2. Die Bildung des Gesamt-GdB kann mit der isolierten Beanstandung eines Einzel-GdB nicht mit Erfolg gerügt werden.

 

Normenkette

SGB X § 45; SGG § 77; SGB X § 39; SchwbG §§ 3, 4 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 29.11.1991; Aktenzeichen L 4 Vs 75/90)

SG Koblenz (Entscheidung vom 20.07.1990; Aktenzeichen S 4 Us 295/89)

 

Tatbestand

Der Kläger beanstandet, daß während eines laufenden Widerspruchsverfahrens, mit dem er die Erhöhung des Grades der Behinderung (GdB) von 40 auf 50 erstrebte, der GdB nach Anhörung mit Rücknahmebescheid des Versorgungsamts auf 30 vH ermäßigt worden ist. Widerspruch und Klageverfahren waren ohne Erfolg (Bescheide vom 22. März 1988 und 21. Februar 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 1989; Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Koblenz vom 20. Juli 1990 und Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. November 1991). Mit der wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 45 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X), weil nicht nachgewiesen sei, daß die ursprüngliche Festlegung eines Gesamt-GdB von 40 rechtswidrig gewesen sei. Im übrigen werden Verfahrensverstöße gerügt, weil sich das LSG Sachverständigenwissen angemaßt und hinsichtlich des Einzel-GdB für die Herz-Kreislaufstörung und den Bluthochdruck von den Sachverständigengutachten erster und zweiter Instanz abgewichen sei; hierfür sei nach den übereinstimmenden Aussagen der gerichtlichen Sachverständigen ein GdB von 30 anzusetzen. Es komme demgegenüber nicht darauf an, daß der Gesamt-GdB auch von den gerichtlichen Sachverständigen nur mit 30 bewertet worden sei.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil sowie den Bescheid des Beklagten vom 21. Februar 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 1989 aufzuheben und unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Koblenz vom 20. Juli 1990 sowie des Bescheides des Beklagten vom 22. März 1988 den Beklagten zu verurteilen, beim Kläger einen GdB von 50 festzustellen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er vertritt die Auffassung, das angefochtene Urteil habe die von ihm für grundsätzlich erachtete Rechtsfrage, ob das Verbot der reformatio in peius im Widerspruchsverfahren den Erlaß eines Bescheides nach § 45 SGB X hindere, zutreffend beantwortet. Die Beweiswürdigung sei nicht zu beanstanden.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Zu Recht hat das LSG dahin entschieden, daß der Bescheid vom 22. März 1988, in dem der GdB mit 40 festgestellt worden war, nicht allein deshalb wiederherzustellen war, weil während des laufenden Widerspruchsverfahrens die Herabsetzung des GdB auf 30 am Verbot der reformatio in peius scheiterte. Ein solches Verbot enthält das Gesetz nicht. Es ergibt sich lediglich aus dem Zusammenspiel von § 39 SGB X und § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), daß ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er nicht angefochten wird, zu Gunsten des Berechtigten und zu Lasten der Verwaltung bindend wird; diese Bindung wird als Verbot der reformatio in peius (Verböserungsverbot) bezeichnet. Aber auch bindende Verwaltungsakte können nach den §§ 45 und 48 SGB X zurückgenommen, aufgehoben oder geändert werden. Aus § 77 SGG läßt sich nichts anderes entnehmen. Der Eintritt der Bindung wird durch die gesetzlich eingeräumte Befugnis zur Durchbrechung der Bindung nicht in Frage gestellt. Die den einzelnen begünstigende Bindungswirkung der Verwaltungsakte ist auch in § 39 Abs 2 SGB X unter den Vorbehalt gestellt, daß dies nur solange gilt, als der Verwaltungsakt nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Damit sind der Verwaltung die Gestaltungsrechte der §§ 45 ff SGB X auch im laufenden Verwaltungsverfahren, also auch im Widerspruchsverfahren, eröffnet. Die Durchbrechung der Bindungswirkung ist gewollt (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats in SozR 1300 § 45 Nr 46 und ausführlich Urteil des 6. Senats vom 2. Dezember 1992 - 6 RKa 33/90 - zur Veröffentlichung vorgesehen).

Hiergegen bestehen auch keine rechtsstaatlichen Bedenken. Denn die Vorschriften der §§ 45, 48 SGB X regeln die Voraussetzungen für die gebotene Abwägung zwischen dem schutzwürdigen Vertrauen des Einzelnen und dem öffentlichen Interesse an der Rechtmäßigkeit des Bescheides. Der Betroffene wird zusätzlich durch das strikte Anhörungsgebot des § 24 SGB X iVm § 41 Abs 2 SGB X vor Überraschungsentscheidungen geschützt.

Eine solche Auslegung ist nicht zuletzt deshalb geboten, weil Gegenstand und Dauer des Widerspruchsverfahrens der Einflußnahme der Verwaltung oft entzogen sind; der Handlungsspielraum der Verwaltung darf nicht unangemessen eingeschränkt werden. Wäre der Verwaltung während der Dauer des Widerspruchsverfahrens die Rücknahme, Aufhebung und Änderung des ursprünglichen Verwaltungsaktes entgegen dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts verwehrt, würde in vielen Fällen der Zeitablauf jeder Rücknahme entgegenstehen oder die Aufhebungsmöglichkeit doch zeitlich einschränken. Denn als Handlungsfrist steht der Behörde nur ein Jahr zur Verfügung (§ 45 Abs 4 SGB X); gegenüber Gutgläubigen ist die Rücknahmemöglichkeit auf zwei Jahre seit der rechtswidrigen Begünstigung begrenzt (§ 45 Abs 3 Satz 1 SGB X). Bei einer Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft kommt es auf den Zeitpunkt an, in dem der Rücknahme- oder Aufhebungsbescheid erlassen wird. Schon deshalb muß ausgeschlossen werden, daß der Zeitablauf durch das Widerspruchsverfahren die rechtzeitige Herstellung eines rechtmäßigen Zustands verhindert.

Zu Recht weist die Revision allerdings darauf hin, daß die Rücknahme eines begünstigenden Bescheides nicht der erstmaligen Ablehnung eines solchen Bescheides gleichzustellen ist (vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 49). Die auf § 45 SGB X gestützte Rücknahme bedeutet vielmehr einen Eingriff in eine bestehende Rechtsposition, dessen Zulässigkeit von besonderen Voraussetzungen abhängt. Das Gesetz verlangt, daß feststeht, dh erwiesen ist, daß der ursprüngliche Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Die Verwaltung trägt dafür die volle Beweislast. Das ist nicht nur dann von besonderer Bedeutung, wenn der Verwaltungsakt auf einer Wahrscheinlichkeitsentscheidung beruht (so BSG aa0), sondern auch dann, wenn aufgrund einer wertenden Zusammenschau unterschiedlicher Faktoren eine Beurteilung zum GdB abgegeben wird, die durchaus mit gewissen Unsicherheiten belastet sein mag (vgl zu diesen Problemen Hennies, Med Sach 89 ≪1993≫, 41 ff). Solchen Unsicherheiten trägt der Gesetzgeber für die juristische Bewertung dadurch Rechnung, daß er die Festlegung des GdB nur in 10er Graden zuläßt (§ 3 Abs 2 Schwerbehindertengesetz ≪SchwbG≫). Allein eine abweichende Beurteilung innerhalb der Schwankungsbreite von 30 zu 40, für die es vertretbare Argumente geben mag, ist daher in aller Regel nicht geeignet, die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes zu beweisen. Es ist vielmehr erforderlich, daß dieser Verwaltungsakt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt haltbar erscheint. Unsicherheiten in der Beweisführung gehen zu Lasten der Verwaltung.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist der Nachweis geführt worden. Der mit 40 bezeichnete GdB war falsch, der Bescheid vom 22. März 1988 somit rechtswidrig. Die Feststellungen und die ihnen zugrundeliegende Beweiswürdigung des LSG sind insoweit nicht mit durchgreifenden Revisionsrügen angegriffen worden.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Überprüfung, ob der Herabsetzungsbescheid rechtmäßig ist, ist der Zeitpunkt seines Erlasses, hier der 21. Februar 1989, weil ein Herabsetzungsbescheid mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist (vgl BSGE 68, 228, 231 mwN). Dabei erweist sich ein solcher Rücknahmebescheid dann als rechtmäßig, wenn der ursprüngliche Bescheid im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war. Insoweit ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des aufgehobenen Bescheides maßgeblich. Neuere Erkenntnisse, spätere Beweisaufnahmen, insbesondere eine Änderung der Sach- und Rechtslage im Verlauf des Gerichtsverfahrens beeinflussen die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Rücknahmebescheides nicht. Sie sind im Rahmen der Anfechtungsklage unbeachtlich (so auch Urteil des 2. Senats vom 20. April 1993 - 2 RU 52/92).

Hinsichtlich der maßgeblichen Erkenntnisgrundlagen, die für die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen und des GdB des Klägers im März 1988 und im Februar 1989 vorhanden waren, sind in der Revision weder Rügen zur Sachverhaltsermittlung noch zur Beweiswürdigung vorgebracht. Das LSG hat den vollen Nachweis der Unrichtigkeit für erbracht gehalten und dem im Oktober 1989 erstatteten internistischen Gutachten die Bestätigung dafür entnommen, daß bei den als progredient geschilderten Funktionsstörungen infolge Bluthochdrucks nachweislich ursprünglich eine fehlerhafte Bewertung stattgefunden hatte. Zulässige Rügen gegen diesen Rückschluß sind nicht erhoben. Ersichtlich entsprach dieser Schluß dem in den Verwaltungsakten festgehaltenen Sachverhalt mit Hochdruckwerten von 160/120 und 160/90. Im Verwaltungsverfahren hatte der Kläger die Anhebung des GdB auch nicht hiermit, sondern wesentlich mit sonstigen Erkrankungen (Krampfadern, Prostataleiden, Kopfschmerzen) begründet. Diesen Sachverhalt hat die Revision nicht in Frage gestellt.

Auch für die Folgezeit hat das LSG dem Klageantrag zu Recht nicht stattgegeben.

Hierbei läßt der Senat offen, ob für die GdB-Feststellung im Schwerbehindertenrecht uneingeschränkt daran festzuhalten ist, daß es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung handelt, die eine Leistung betreffen (so der erkennende Senat in BSG SozR 1300 § 48 Nr 29; vgl zur Problematik zuletzt Steyer, Die Versorgungsverwaltung 1993, 23 f). Nur diese Sichtweise rechtfertigt nämlich, trotz zunächst unbegründeter Anfechtungsklage die inzwischen möglicherweise geänderte Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Tatsachenentscheidung für die Bewertung des GdB zugrunde zu legen (vgl die Darstellung bei Hennig/Danckwerts/König, Sozialgerichtsgesetz, Stand: November 1987 § 54 Anm 6.2.1 und 6.2.2). Von diesem dem Kläger günstigen Rechtsstandpunkt ist das Berufungsgericht jedenfalls ausgegangen und hat den "Leistungsantrag" auf Erhöhung des GdB auch von einem späteren Zeitpunkt an verneint. Es hat den Gesamt-GdB weiterhin mit 30 bewertet. Es hat dabei den Einzel-GdB für die auf dem Bluthochdruck beruhenden Funktionsstörungen in Abweichung von den eingeholten Gutachten selbst bewertet, was sich aber bei der Bildung der Gesamt-GdB nicht ausgewirkt hat.

Die Rüge der Revision, das Berufungsgericht habe in bezug auf einen Einzel-GdB seine Kompetenzen überschritten, sich medizinische Sachkunde angemaßt und notwendige weitere Ermittlungen unterlassen, greift nicht durch. Der Einzel-GdB ist keiner eigenen Feststellung zugänglich; er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Er erwächst auch nicht in Bindung (so schon zur MdE: BSG SozR Nr 44 zu § 77 SGG; hierauf aufbauend zum GdB: BSG SozR 1300 § 48 Nr 29 und SozR 3870 § 4 Nr 1). Wird die Festlegung eines Einzel-GdB mit Revisionsrügen angegriffen, muß zugleich dargetan werden, daß sich hierdurch der Gesamt-GdB ändern muß. Hieran fehlt es. Die Revision stützt sich auf die gerichtlichen Sachverständigengutachten. Diese stimmen im maßgeblichen Gesamt-GdB mit der Entscheidung des Berufungsgerichts überein; die Revision zeigt demgegenüber nicht auf, inwiefern das Gesamtergebnis der Ermittlungen die beantragte abweichende Entscheidung stützen könnte.

Das Berufungsgericht ist der ständigen Rechtsprechung des Senats gefolgt, daß es richterliche Aufgabe ist, die Überzeugungskraft einzelner Umstände und Beweismittel zu bewerten und den maßgeblichen Gesamt-GdB, der sich aus einer Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen ergibt, nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der Anhaltspunkte in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl Urteil des Senats vom 9. März 1988 - 9/9a RVs 14/86 - SozSich 1988, 381 = Meso B 20a/229 unter Bezugnahme auf BSGE 41, 99 = SozR 2200 § 581 Nr 5; SozR 3870 § 3 Nrn 4, 5 und SozR 3 - 3870 § 4 Nr 1). Rechtsfehler sind insoweit nicht zu erkennen und von der Revision auch nicht geltend gemacht. Die Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegt als tatrichterliche Würdigung nur beschränkter Überprüfung darauf, ob der Tatrichter Rechtsbegriffe verkannt hat, oder bei seiner Beurteilung wesentliche Umstände außer acht gelassen, gegen Verfahrensvorschriften, Denkgesetze oder Erfahrungsgrundsätze verstoßen hat. Die erhobene Rüge der Anmaßung medizinischer Kenntnisse ist insoweit grundsätzlich geeignet, das Beweisergebnis in der Revision anzugreifen. Dieser Angriff darf sich aber nicht allein auf einen Einzel-GdB beziehen. Denn im Schwerbehindertenrecht gibt es keine Beweisregel dahingehend, daß die Gerichte bei der Bildung des Gesamt-GdB an die von Sachverständigen vorgeschlagenen Einzelwerte gebunden wären. Bildet das Gericht in eigener Verantwortung und in nachvollziehbar dargelegter Weise den Gesamt-GdB in einer Höhe, den die Sachverständigen aus der jeweiligen Sichtweise ihres Fachgebietes ebenfalls befürworten, kann das Beweisergebnis nicht mit der isolierten Behauptung angegriffen werden, daß Einzelwerte fehlerhaft nicht übernommen worden seien. Es muß zugleich dargelegt werden, daß die das Ergebnis bestätigenden Gutachten als Entscheidungsgrundlagen unzulänglich gewesen seien. Sofern die Revision das gefundene Ergebnis für nicht zutreffend halten sollte, begründet dies den Verfahrensfehler nicht.

Auch mit dem Vorwurf, das LSG habe ein Beweismittel aus dem Verwaltungsverfahren verfahrensfehlerhaft übergangen, kann die Revision nicht durchdringen. Es ist nicht erkennbar, inwiefern das angefochtene Urteil hierauf beruhen könnte, weil nach dem genannten Arztbrief das Leistungsvermögen des Klägers noch besser war, als es das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat: eine dreiminütige Belastung bei 75 Watt war für die Entscheidungsfindung maßgeblich; nach dem von der Revision herangezogenen Arztbrief war die stufenweise Leistungsprüfung erst bei 125 Watt abgebrochen worden.

Die auf den bindenden Tatsachenfeststellungen (§ 163 SGG) beruhende GdB-Bewertung, die Rechtsfehler nicht erkennen läßt, war zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI915601

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