Entscheidungsstichwort (Thema)

Unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist auch dann unrichtig, wenn das für die Erhebung der Klage genannte Sozialgericht örtlich nicht zuständig ist. Die abstrakte Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen einer solchen unrichtigen Belehrung und einem Klageverlust ist nicht auszuschließen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Wird in einer Rechtsbehelfsbelehrung ein örtlich unzuständiges SG angegeben, so gilt für die Klageerhebung nicht die Monatsfrist des SGG § 87 Abs 1 S 1, sondern die Jahresfrist des SGG § 66 Abs 2 S 1.

 

Normenkette

SGG § 66 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 87 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Oktober 1970 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger bezog seit April 1963 eine Berufsunfähigkeitsrente, die ihm durch Bescheid der Beklagten vom 6. September 1967 entzogen wurde. Dieser Bescheid, am 12. September 1967 an den Kläger abgesandt, wurde durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes zugestellt (§ 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG -); er enthielt ua folgende Belehrung:

"Gegen diesen Bescheid können Sie innerhalb eines Monats nach Zustellung schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts in 44 Münster, Alter Steinweg Nr. 32, Klage erheben".

Der Kläger erhob am 23. Oktober 1967 bei dem Sozialgericht (SG) Münster Klage. Dieses Gericht verwies den Rechtsstreit auf Antrag des Klägers an das zuständige SG in Gelsenkirchen, bei dem er Erfolg hatte. Das Gericht ging davon aus, daß infolge unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung (fehlender Hinweis auf § 4 VwZG) in dem Rentenentziehungsbescheid der Beklagten die Monatsfrist des § 87 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht in Lauf gesetzt worden sei. Auf die Berufung der Beklagten hin hob das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab (Urteil vom 15. Oktober 1970).

Nach der Rechtsauffassung des LSG ist die Klage nicht rechtzeitig erhoben worden. Entgegen der Meinung des SG sei die Rechtsbehelfsbelehrung in dem Rentenentziehungsbescheid der Beklagten nicht deshalb unrichtig im Sinne von § 66 Abs. 2 SGG gewesen, weil sie keinen Hinweis auf § 4 VwZG enthalten habe; denn ein solcher Hinweis sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entbehrlich (SozR Nr. 32 zu § 66 SGG). Auch daraus, daß in der Rechtsbehelfsbelehrung unrichtigerweise das SG in Münster als das anzurufende Gericht bezeichnet worden sei, lasse sich eine "unrichtige" Rechtsbehelfsbelehrung nicht herleiten. Denn selbst wenn dieses Gericht örtlich unzuständig gewesen sei, so habe doch wegen § 91 SGG die Gefahr eines Rechtsbehelfsverlustes niemals bestanden. Die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) scheide aus, weil der im vorliegenden Fall erforderliche Antrag nach Absatz 2 dieser Vorschrift verspätet gestellt worden sei, im übrigen aber auch die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nicht glaubhaft gemacht worden seien.

Mit der nicht zugelassenen Revision beantragt der Kläger (sinngemäß),

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Er rügt u. a., das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß die Klage nicht fristgerecht erhoben worden sei. Er meint, die Rechtsbehelfsbelehrung in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten sei unrichtig gewesen. Die falsche Bezeichnung der Stelle, bei der der Rechtsbehelf einzulegen sei, werde nicht dadurch behoben, daß statt dessen eine andere Stelle angegeben sei (SozR Nr. 15 zu § 66 SGG). Die Frist des § 87 SGG sei daher gar nicht in Lauf gesetzt worden.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet.

Obwohl das LSG in dem angefochtenen Urteil die Revision nicht zugelassen hat, ist sie statthaft, weil der Kläger in der gesetzlich gebotenen Form (§ 164 Abs. 2 SGG) einen tatsächlich vorliegender wesentlichen Verfahrensmangel des LSG gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Im vorliegenden Falle ist die verletzte Rechtsnorm - § 66 i. V. m. § 87 SGG - mit genügender Bestimmtheit dadurch gekennzeichnet, daß die die Zulässigkeit der Klage begründenden Tatsachen bezeichnet sind. Ob auch die übrigen vom Kläger gerügten Mängel zur Statthaftigkeit der Revision geführt hätten, kann unter diesen Umständen dahinstehen.

Die Richtigkeit des Revisionsvorbringens wird durch den Inhalt der Akten und die Gründe des angefochtenen Urteils bestätigt. Danach war die Rechtsmittelbelehrung im Bescheid der Beklagten vom 6. September 1967 insofern unrichtig, als darin nicht das zuständige Sozialgericht bezeichnet worden war. Das LSG hat dies nicht verkannt; es hat auch nicht übersehen, daß § 91 Abs. 1 SGG nur fristwahrende Bedeutung hat. Es ist jedoch der Meinung, eine den Fristbeginn hindernde unrichtige Rechtsmittelbelehrung könne nur vorliegen, wenn ihre Befolgung wenigstens geeignet sei, zum Verlust des Rechtsmittels zu führen; fehle diese Voraussetzung, so sei es unbillig, aus einer derartigen Rechtsmittelbelehrung Rechtsvorteile herzuleiten. Damit verlangt das LSG die abstrakte Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen unrichtiger Rechtsmittelbelehrung und Rechtsmittelverlust. Dem ist zuzustimmen (vgl. SozR Nr. 31 zu § 66 SGG). Der Senat vermag aber dem LSG nicht zu folgen, wenn es meint, bei Angabe eines örtlich nicht zuständigen Sozialgerichts bestehe im Hinblick auf § 91 SGG niemals die Gefahr eines Klageverlustes. Das trifft zwar zu, wenn die Belehrung befolgt wird und die Klage noch innerhalb der Klagefrist beim unzuständigen Gericht eingeht. Das LSG übersieht jedoch, daß ein Kläger gerade infolge einer falschen Belehrung der vorliegenden Art die Frist zur Klageerhebung - wenn auch nur in seltenen Ausnahmefällen - versäumen kann, nämlich deshalb, weil er nicht auf das örtlich zuständige, seinem Wohnsitz nahe Gericht (§ 57 Abs. 1 SGG), sondern auf ein entfernteres verwiesen worden ist. Dabei ist auch zu bedenken, daß die Klage nach § 90 SGG wahlweise schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG erhoben werden kann. Die abstrakte Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen einer solchen unrichtigen Rechtsmittelbehrung und einem Klageverlust ist daher nicht auszuschließen. Aus welchen Gründen im Falle des Klägers dann tatsächlich die Monatsfrist zur Erhebung der Klage nicht gewahrt wurde, ist belanglos. Für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit muß im Interesse der Rechtsschutzsuchenden gerade auch wegen des fehlenden Vertretungszwanges bei Erhebung der Klage an dem Erfordernis der genauen Angabe des zuständigen Gerichts in der Rechtsmittelbelehrung festgehalten werden. Die Klagefrist hatte somit im vorliegenden Fall nicht zu laufen begonnen (vgl. auch Volbers in "Die Sozialversicherung" 1970, 281). Der Kläger konnte daher den Bescheid vom 6. September 1967 noch innerhalb eines Jahres nach Zustellung (15. September 1967) anfechten (§ 66 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Das angefochtene Urteil muß hiernach aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1668764

NJW 1971, 1381

MDR 1971, 700

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