Entscheidungsstichwort (Thema)

Höhe einer wiederaufgelebten Witwenrente

 

Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe der wiederaufgelebten Witwenrente der Klägerin.

Die Klägerin war in zweiter Ehe mit dem Versicherten R. … W. … verheiratet. Nach seinem Tode im Jahre 1963 bezog sie Witwenrente, anläßlich ihrer Wiederverheiratung im Jahre 1972 erhielt sie dafür eine Abfindung.

Die neue Ehe der Klägerin wurde durch Urteil des Amtsgerichts S. … vom 7. November 1978 (rechtskräftig seit 12. Januar 1979) geschieden; der Versorgungsausgleich hatte nach dem § 1587g bis n des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zu erfolgen. Während des Scheidungsverfahrens zahlte der frühere Ehemann der Klägerin Unterhalt von monatlich DM 500,--.

Kurz vor der Scheidung übertrug die Klägerin das Eigentum eines ihr gehörenden Grundstücks auf ihren Sohn, der dafür ihre Pflege in alten Tagen übernehmen sollte. Im Zusammenhang mit der Scheidung entstand ein Rechtsstreit um die Rechtmäßigkeit der Eigentumsübertragung. Zur außergerichtlichen Erledigung dieses Rechtsstreites traf die Klägerin mit ihrem früheren Ehemann im Januar 1979 eine Vereinbarung: Er stimmte der Veräußerung zu, sie verzichtete auf die Durchführung eines Versorgungs- und Zugewinnausgleich sowie auf Unterhalt.

Durch Bescheid vom 27. Juni 1979 bewilligte die Beklagte der Klägerin die wiederaufgelebte Witwenrente aus der Versicherung ihres zweiten Ehemannes R. W. Hierbei rechnete sie einen Unterhaltsanspruch von monatlich DM 500,-- an.

Mit ihrer Klage gegen die Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs hatte die Klägerin in den Vorinstanzen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Mainz vom 9. Dezember 1980, Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Rheinland-Pfalz vom 9. Oktober 1981). Das LSG sah einen verständigen Grund für den Unterhaltsverzicht daß der Unterhaltsanspruch der Klägerin zumindest der Höhe nach zweifelhaft gewesen sei und entweder nicht oder nur mit Schwierigkeiten hätte durchgesetzt werden können. Hierbei sei unerheblich, ob auf den Unterhalt vor oder nach Abschluß des Scheidungsverfahrens verzichtet werde.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor, die hätte einen Unterhaltsanspruch in Höhe von monatlich DM 500,-- gegenüber ihrem früheren Ehemann gehabt und diesen auch realisieren können. Das LSG habe keine Umstände ermittelt, aus denen sich ein verständiger Grund für den Unterhaltsverzicht ableiten lasse. Der Unterhaltsverzicht sei nach Rechtskraft des Scheidungsurteils erklärt worden, sein Zweck liege auf nachehelichem wirtschaftlichen Gebiet und müsse deshalb unberücksichtigt bleiben.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, der verständige Grund für den Unterhaltsverzicht liege darin, daß kostspielige Rechtsstreite vermieden werden sollten.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Die Klägerin hat nach § 1291 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) einen Anspruch auf Wiederaufleben der Witwenrente; hierbei ist ein (fiktiver) Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann nicht anzurechnen. Der Unterhaltsverzicht der Klägerin rechtfertigt eine solche Anrechnung nicht.

Nach der Fassung, die § 1291 RVO durch das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 (BGBl. I 1965) mit Wirkung vom 1. Januar 1973 erhalten hat, hängt der Anspruch auf Wiederaufleben der Witwenrente nicht mehr davon ab, daß die letzte Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst worden ist.

Vor Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes (RRG) konnte eine Witwenrente nur wiederaufleben, wenn die zweite Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst worden war. Diese Regelung galt nach § 44 Bundesversorgungsgesetz a.F. (BVG a.F.) auch für die Kriegsopferversorgung. Das Verschuldensprinzip in § 44 BVG a.F. hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE) durch Urteil vom 12. November 1974 (1 BvR 505/68 = BVerfGE 38, 187 = SozR 3100 § 44 Nr. 2) für unvereinbar mit dem Gleichheitssatz des Art 3 Grundgesetz (GG) und der Sozialstaatsklausel des Art 20 GG erklärt. In seiner Entscheidung hielt es das BVerfG für inkonsequent, das Wiederaufleben einer Witwenrente wegen eines selbstverschuldeten Ausfalls an Unterhaltsansprüchen zu versagen a.a.O. S. 200). Vielmehr sollte der Witwe jede Besorgnis späterer Nachteile infolge einer neuen Eheschließung genommen werden (a.a.O. S. 203).

Das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 20. Januar 1969 - VI C 46.66 = BVerwGE 31, 197) hielt einen Unterhaltsverzicht nicht - schlechthin für geeignet, einen früheren Versorgungsanspruch nicht wieder aufleben zu lassen. Es stellte auf einen "anerkennenswerten" Grund für den Unterhaltsverzicht ab. Dieser könne darin gesehen werden, daß die Realisierung des Unterhaltsanspruchs mit Schwierigkeiten verbunden sei (a.a.O. S. 210f).

Hieran anknüpfend hat das BSG (Urteil des erkennenden Senates vom 24. Mai 1978 - 4 RJ 79/77 = BSGE 46, 193 = SozR 2200 § 1291 Nr. 16) für das Vorliegen eines "verständigen Grundes" für einen der das Wiederaufleben einer Witwenrente nicht ausschließt, auf objektive Kriterien abgestellt und hierzu ausgeführt (a.a.O. S. 196f), der Subsidiaritätsgrundsatz des § 1291 Abs. 2 RVO, der eine Doppelversorgung vermeiden soll, verbiete es im Interesse der Versichertengemeinschaft, daß die Doppelverordnung durch eine den Versicherungsträger zugunsten des unterhaltsfähigen Ehemannes belastende Absprache der Ehegatten bewirkt werde, ohne daß sich für den Unterhaltsverzicht ein anderer zwingender oder auch nur plausibler Grund aus den Verhältnissen der Ehegatten selbst und ihrer Kinder ergebe. In einer weiteren Entscheidung (Urteil vom 15. November 1979 - 11 RA 99/78 = BSGE 49, 131, 135 = SozR 2200 § 1291 Nr. 19) hat das BSG für die Wertung des "verständigen Grundes" auf den Persönlichkeitsbereich der Witwe und deren eigenverantwortliche Entscheidung abgestellt.

Diese Rechtsprechung bezog sich auf das vor dem 1. Juli 1977 geltende Ehe- bzw. Scheidungsrecht, das auch hinsichtlich der Unterhaltsansprüche vom Verschuldensprinzip geprägt war (vgl. §§ 58, 59 Ehegesetz). Hier ist indessen eine wesentliche Rechtsänderung eingetreten, und zwar dahingehend, daß das Verschulden eines Ehepartners für die Scheidung keine Rolle mehr spielt (§ 1565 BGB). Auch die aus der Scheidung resultierenden wirtschaftlichen Auseinandersetzungen einschließlich der Regelung der Unterhaltsansprüche, die als Folgesachen (§ 623 i.V.m. § 621 ZPO) mit dem Scheidungsverfahren verbunden sind, hängen nicht mehr von der Frage des Verschuldens ab. Materiell-rechtlich kommt es für den Unterhaltsanspruch nicht mehr auf das Verschulden eines Ehepartners, sondern nur noch auf die wirtschaftlichen Kriterien der Unterhaltsbedürftigkeit und der Unterhaltsfähigkeit an (§§ 1569 ff BGB).

Die neue Gestaltung des Ehescheidungs- und Folgerechts ist auch die Frage zu beachten, ob und wie fiktive Unterhaltsansprüche auf die wiederaufgelebte Hinterbliebenenrente anrechenbar sind. Der Senat ist der Auffassung, daß auch weiterhin ein Verzicht der Rentenberechtigten nicht schlechthin unbeachtlich bleiben kann. Zwar steht den Ehegatten schon nach der ausdrücklichen Regelung des § 1585c BGB das Recht zu, über die Unterhaltspflicht für die Zeit nach der Scheidung Vereinbarungen zu treffen; ihre vertragliche Gestaltungsmöglichkeit kann jedoch, soweit sie in den Bereich der Rentenversicherung hineinwirkt, nur soweit gebilligt werden, als sie nicht gegen das durch § 1291 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz RVO angeordnete Prinzip der Subsidiarität des wiederaufgelebten Rentenanspruchs verstößt. Eine vertragliche Modifikation des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs ist somit auch der neuen Gesetzeslage für die Rentenversicherung nur dann beachtlich, wenn sie auf einem verständigen Grund beruht.

Eine Unterhaltsvereinbarung (§ 1585c BGB), zu der auch der Unterhaltsverzicht gehört, ist ebenso wie eine Vereinbarung über den Versorgungsausgleich, die der vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bedarf (§ 1587o BGB), eine Regelung wirtschaftlicher Fragen. Die wirtschaftliche Auseinandersetzung bei der Ehescheidung bleibt aber in aller Regel nicht auf den Unterhalt beschränkt, sie erstreckt sich vielmehr auf den gesamten vermögensrechtlichen Bereich - wie das auch in § 623 i.V.m. § 621 ZPO zum Ausdruck kommt -, und muß deshalb insgesamt in die Betrachtung und Würdigung einbezogen werden. Erst aus dieser Gesamtschau ist zu beurteilen, ob die Unterhaltsvereinbarung als Einzelregelung von einem "verständigen Grund" getragen wird.

Ausgangspunkt für die vertragliche Unterhaltsregelung ist der Grundsatz der Vertragsfreiheit als Bestandteil des Persönlichkeitsbereich (BSGE 49, 131, 135). Hiernach muß es den Vertragspartnern überlassen bleiben, ob und in welcher Weise sie ihre vermögensrechtlichen Beziehungen nach der Scheidung regeln wollen. Dabei kann nicht ins Gewicht fallen, ob solche Vereinbarungen zeitlich vor oder nach der Scheidung liegen. Vielfach werden die vermögensrechtlichen Beziehungen erst nach der Scheidung vom Familiengericht entschieden oder von den geschiedenen - Eheleuten vertraglich geregelt.

Die Auswirkungen dieser Vertragsfreiheit finden indessen ihre Grenze, wie bereits dargelegt, in der Subsidiarität des auf die wiederaufgelebte Witwenrente (vgl. BSG-Urteil vom 2.9.64 - 11/1 RA 189/61 = BSGE 21, 279, 281 = SozR Nr. 9 zu § 1291 RVO). Nach § 1291 Abs. 2 RVO ist ein infolge der Auflösung der Ehe erworbener Unterhaltsanspruch anzurechnen. Damit stellt das Gesetz auf das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs ab, ohne den Berechtigten gleichzeitig zu ermächtigen, nach Belieben darüber zu verfügen.

Bei einer Unterhaltsvereinbarung trifft die Witwe eine Regelung, die sich im wirtschaftlichen Ergebnis auf die von der Solidargemeinschaft zu erbringenden Leistungen auswirken kann. Deren berechtigte Interessen sind aber auch von einer Witwe zu berücksichtigen weil sie ihre Ansprüche von dem Versicherten, der Mitglied dieser Solidargemeinschaft war, ableitet. Da sie den schutzwürdigen Interessen der Solidargemeinschaft Rechnung tragen muß, ist es für sie zumutbar, vermögenswerte Ansprüche, die zur Bestreitung des Lebensunterhalts geeignet sind, gegenüber dem geschiedenen Ehemann zu realisieren. Erst wenn sich dahingehende Versuche als unverhältnismäßig schwierig oder gar aussichtlos erweisen oder wenn sich dadurch anderweitige schwerwiegende für die Witwe ergeben, kann sie davon absehen.

Ausgangspunkt für die Prüfung des verständigen Grundes ist demnach die wirtschaftliche Lage der Eheleute im Zeitpunkt der Regelung der Scheidungsfolgen (Folgesachen) einschließlich des Unterhalts. Auf dieser Grundlage hat die Witwe im Falle eines Unterhaltsverzichts darzulegen, weshalb ihr die Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs nicht zuzumuten war. Weiterhin kann es beachtlich sein, ob der Witwe bei der Regelung der Folgesachen Vermögensvorteile zugeflossen sind, die unmittelbar, oder mittelbar zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts bestimmt sind und deren Berücksichtigung mithin geboten ist. Aus der Abwägung dieser Umstände ist für die nach dem neuen Scheidungsrecht aufgelösten Ehen zu erschließen, ob ein verständiger Grund für die Unterhaltsvereinbarung vorliegt, der auch unter Berücksichtigung der Interessen der Solidargemeinschaft billigenswert ist.

Ungeachtet der Tatsache, daß die Witwenrente weiterzuzahlen gewesen wäre, wenn die Witwe keine weitere Ehe geschlossen hätte, und insoweit durch das Wiederaufleben der Rente keine zusätzliche Belastung eintritt (vgl. BVerfG a.a.O.), ergibt sich doch aus der Unterhaltsersatzfunktion der wiederaufgelebten Witwenrente, daß die Berechtigte primär die infolge der Scheidung erlangten Vermögenswerte zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts einsetzen muß, ehe für diesen Zweck die (wiederauflebende) Witwenrente heranzuziehen ist. Als Vermögenswerte kommen außer einem Unterhaltsanspruch auch Zuwendungen in Betracht, die die Berechtigte im Rahmen einer Vereinbarung über die wirtschaftlichen Folgen der Scheidung erhält.

Die Klägerin hat nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG mit dem Unterhalt gleichzeitig auf die Durchführung des Versorgungs- und Zugewinnausgleichs verzichtet, ihr geschiedener Ehemann hat als Gegenleistung die Übertragung des der Klägerin gehörenden Grundbesitzes auf ihren Sohn gebilligt. Mit dieser Vereinbarung hat die Klägerin einen ihr drohenden Nachteil hinsichtlich der Verfügung über ihr Vermögen abgewandt. Erkennbar war dem geschiedenen Ehemann der Klägerin daran gelegen, die Übertragung des Grundbesitzes mit allen ihm zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln zu verhindern. Da es zumindest zweifelhaft war, ob der Klägerin selbst für den Fall, daß sie Eigentümerin ihres Grundbesitzes geblieben wäre, nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen ein Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann zugestanden hätte, erscheint es verständig und billigenswert, wenn die Klägerin den möglichen Verlust fragwürdiger Unterhaltsansprüche in Kauf nahm. Hierbei kann nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein, daß der Unterhaltsverzicht erst nach der Scheidung erklärt wurde. Entscheidend ist vielmehr - wie bereits ausgeführt - die persönliche und wirtschaftliche Situation der Klägerin im Zeitpunkt des Unterhaltsverzichts.

Nach alledem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 518883

BSGE, 270

Breith. 1984, 689

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