Leitsatz (amtlich)

Hat eine wiederverheiratete Witwe bei der Scheidung ihrer 2. Ehe auf Unterhalt verzichtet, so ist auf die wiederaufgelebte Witwenrente der Unterhaltsanspruch anzurechnen, der der Witwe ohne den Verzicht nach dem EheG zustehen würde.

 

Normenkette

EheG Fassung: 1946-02-20; AVG § 68 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1291 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. April 1961 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Klägerin bezog nach dem Tode ihres 1. Ehemannes bis zu ihrer Wiederheirat im Jahre 1948 eine Witwenrente aus der Angestelltenversicherung. Die 2. Ehe wurde im Juni 1957 aus dem Verschulden des Mannes geschieden, nachdem die Eheleute zuvor vergleichsweise über den künftigen Unterhalt der Klägerin folgendes bestimmt hatten:

"Der Beklagte (2. Ehemann) zahlt an die Klägerin bis zum 30. April 1958 wöchentlich für diese und das Kind Margarete 30,- DM Unterhalt wie bisher, längstens jedoch bis zu dem Zeitpunkt, in welchem die Klägerin ihre Angestelltenrente (Witwenrente) wieder zugesprochen erhält. Im übrigen verzichtet die Klägerin für sich auf jegliche Unterhaltsansprüche einschließlich des Notbedarfs. Der Beklagte nimmt diesen Verzicht an."

Auf den im August 1957 gestellten Antrag erhielt die Klägerin ab diesem Monat wieder die Witwenrente. Die Beklagte kürzte sie jedoch um monatlich 70,- DM, weil die Klägerin infolge Auflösung der 2. Ehe in dieser Höhe einen (gesetzlichen) Unterhaltsanspruch gegen den 2. Ehemann erworben habe. Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte - unter Abweisung der Klage für die vorhergehende Zeit -, die Witwenrente vom Mai 1958 an ohne Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs zu gewähren. Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) zurück: Der Unterhaltsverzicht der Klägerin habe für die Zeit ab Mai 1958 das Entstehen eines Unterhaltsanspruchs verhindert; der Verzicht sei nach § 72 des Ehegesetzes (EheG) rechtswirksam; § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) verbiete nicht den Abschluß von Unterhaltsvereinbarungen vor Rechtskraft der Scheidung.

Mit der zugelassenen Revision beantragte die Beklagte,

die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage - in vollem Umfange - abzuweisen.

Sie rügte eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG.

Die Klägerin beantragte die Zurückweisung der Revision.

Beide Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1, § 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Das LSG hat § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG (= § 1291 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) verletzt. Diese Bestimmung schreibt vor, daß ein von der Witwe "infolge Auflösung der Ehe erworbener neuer Unterhaltsanspruch" auf die wiederaufgelebte Witwenrente anzurechnen ist. Dasselbe gebieten die §§ 615 Abs. 2 RVO, 44 Abs. 5 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), 164 Abs. 3 des Bundesbeamtengesetzes (BBG), 23 S. 2 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) bei anderen Witwenbezügen, die ebenfalls mit Auflösung der 2. Ehe wiederaufleben. In allen Fällen ist Voraussetzung, daß die Witwe infolge der Auflösung der 2. Ehe einen Unterhaltsanspruch "erworben" hat.

Dem LSG ist zuzugeben, daß damit dem Wortlaut nach ein tatsächlich erworbener Unterhaltsanspruch gemeint ist und daß bei Rechtswirksamkeit des Unterhaltsverzichts kein Unterhaltsanspruch für die - noch streitige - Zeit ab Mai 1958 entstehen konnte. Gleichwohl ist die Entscheidung des LSG im Ergebnis unzutreffend.

Hierzu bedarf es keiner Prüfung, ob der Unterhaltsverzicht rechtswirksam oder nichtig ist. Auch wenn mit dem LSG aus § 72 S. 3 EheG keine Bedenken gegen seine Wirksamkeit herzuleiten sind, hat die Beklagte den Verzicht bei Festsetzung der wiederaufgelebten Witwenrente zu Recht nicht berücksichtigt; sie hat die Rente um den Betrag kürzen dürfen, der der Klägerin ohne den Verzicht als gesetzlicher Unterhaltsanspruch nach den §§ 58, 59 EheG zustehen würde.

Die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift - hier des § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG - muß den Wortlaut stets auch am Sinnzusammenhang messen; ergibt sich aus dem erkennbaren Sinn und Zweck einer Regelung, daß der Wille des Gesetzgebers im Wortlaut einen zu engen Ausdruck gefunden hat, so ist eine berichtigende - erweiternde - Auslegung geboten (BSG 14, 238, 239). Der Sinn und Zweck des § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG erfordert auch die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen, die wegen eines Verzichts der Witwe zwar nicht "erworben" wurden, ohne den Verzicht aber erworben worden wären.

Insoweit kann der erkennende Senat an die Ausführungen des 1. Senats im Urteil vom 29. Mai 1963 (BSG 19, 153) anknüpfen. Das Wiederaufleben der Witwenrente bei Auflösung der 2. Ehe (ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe) soll - ebenso wie die Rentenabfindung nach § 81 AVG - der Witwe den Entschluß zur Wiederheirat erleichtern. Zu diesem Zweck gewährleistet das Gesetz, wenn die 2. Ehe aufgelöst wird, grundsätzlich die gleiche Versorgung wie nach der 1. Ehe. Diese "Mindestversorgung" soll jedoch in erster Linie aus den infolge der Auflösung der 2. Ehe neu erworbenen Ansprüchen (Versorgungs-, Unterhalts-, Rentenanspruch) bestritten werden; erst wenn die Versorgung hieraus hinter der nach der 1. Ehe zurückbleibt, soll die wiederaufgelebte Witwenrente - hilfsweise (subsidiär) - die entstandene Versorgungslücke füllen.

Diesem Sinngehalt des § 68 Abs. 2 AVG widerspricht die Auslegung der Vorschrift durch das LSG, weil sie es zuläßt, daß die "Witwe" selbst eine Versorgungslücke schafft und auf diese Weise die vom Gesetzgeber vorgesehene "Rangfolge" der für ihre Versorgung heranzuziehenden Ansprüche umstößt. Ein solches Verhalten der Witwe darf nicht durch Gewährung einer ungekürzten Witwenrente "honoriert" werden; die vom Gesetz gegebene Versorgungsgarantie entfällt, wenn - insoweit als - die Witwe selbst die "Mindestversorgung" vereitelt, die ihr nach dem Gesetz zusteht. Zu einem anderen Ergebnis nötigen auch die Erwägungen nicht, aus denen das Gesetz Unterhaltsvereinbarungen (Unterhaltsverzichte) vor Rechtskraft der Scheidung zugelassen hat. § 72 EheG gibt kein Recht auf Kosten der Allgemeinheit (BGHZ 20, 127, 134) oder einer Versichertengemeinschaft. Wenn die Unterhaltsabkommen im Rahmen des § 68 Abs. 2 AVG nicht beachtet werden, wird der Witwe weder die Möglichkeit genommen, zur Erleichterung ihrer Scheidung Unterhaltsvereinbarungen zu schließen, noch wird deren Rechtswirksamkeit im Verhältnis zwischen den Eheleuten angetastet. Die Witwe wird nicht schlechter gestellt als andere Frauen, die keine Anwartschaft auf eine wiederauflebende Witwenrente haben; sie wird vielmehr ebenso behandelt, wenn sie - wie jene - die Folgen eines Unterhaltsverzichts selbst tragen muß und sich nicht an Dritten schadlos halten kann.

Der Kürzung der Witwenrente um den ohne Verzicht zustehenden gesetzlichen Unterhaltsanspruch läßt sich schließlich nicht entgegenhalten, daß der Unterhaltsverzicht möglicherweise einen Scheidungsausgang verhindert hat, bei dem die Witwe nach dem EheG gar keinen Unterhaltsanspruch gehabt hätte. Die Hauptfälle, in denen eine geschiedene Frau ohne gesetzlichen Unterhaltsanspruch bleibt, sind die, in denen sie selbst die Scheidung allein oder überwiegend verschuldet hat. In diesen Fällen entfällt aber schon der Anspruch auf das Wiederaufleben der Witwenrente, weil dieser davon abhängt, daß die 2. Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst wird. Es wäre ein Widerspruch in sich, bei der Anspruchsentstehung den wirklichen Prozeßausgang - Scheidung der Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe -, bei der Anrechnung von Unterhaltsansprüchen dagegen einen gedachten Prozeßausgang - Scheidung der Ehe aus alleinigem oder überwiegendem Verschulden der Witwe - zugrunde zu legen; abgesehen davon dürfte sich in vielen Fällen kaum ermitteln lassen, wie das Scheidungsverfahren ohne den Unterhaltsverzicht ausgegangen wäre.

Da die Revision hiernach zu Recht eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG rügt und die Entscheidung des LSG sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil Feststellungen über die Höhe des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs ab Mai 1958 fehlen; der Rechtsstreit muß deshalb zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden; dabei ist vom LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

BSGE, 279

NJW 1964, 2449

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