Orientierungssatz

In Fortführung von BSG 1961-04-27 2 S 1/60 = BSGE 14, 177 ist das BSG auch dann nicht das gemeinsam nächsthöhere Gericht iS von SGG § 181 S 1, § 180 Abs 2, wenn es in einem von einem Unfallverletzten nach KOV-VfG § 40 betriebenen Verfahren die nicht zugelassene Revision wegen Fehlens der Voraussetzungen des SGG § 162 Abs 1 Nr 2 verworfen hat.

 

Normenkette

SGG § 180 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 181 S. 1 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Der Beschluß des Hessischen Landessozialgericht vom 19. April 1967 wird aufgehoben.

 

Gründe

I

Der Kläger fiel am 6. August 1946 auf dem Weg vom Feld nach Hause vom beladenen Erntewagen und zog sich dabei eine Verrenkung der Halswirbelsäule, einen Bruch des 5. Halswirbels sowie eine Prellung des rechten Armes zu. Die Beklagte entzog die deshalb gewährte vorläufige Rente durch Bescheid vom 5. August 1948 mit Ablauf des Monats September 1948, weil die Erwerbsfähigkeit durch Unfallfolgen nur noch um 15. v.H. gemindert sei.

Auf Antrag des Klägers bewilligte ihm die Beklagte durch Bescheid vom 21. Juli 1950 Dauerrente unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H., weil die Universitäts-Nervenklinik F im Gutachten vom 9. März 1950 die nunmehr vorhandenen Lähmungserscheinungen und Gefühlsstörungen im rechten Arm auf eine durch den Unfall erlittene Hirnschädigung zurückführte. Im Gutachten vom 4. Mai 1951 gelangten die Ärzte dieser Klinik aufgrund der Angaben des Klägers, bereits im Jahre 1944 an einer Hirnerkrankung gelitten zu haben, zu folgender Ansicht: Die Krankheitserscheinungen hätten sich seit dem letzten Gutachten zum Teil zurückgebildet, so daß nunmehr die Erwerbsfähigkeit des Klägers insgesamt um 50 v.H. gemindert sei. Dieser Grad der MdE sei aber nur zur Hälfte eine Folge des durch den Arbeitsunfall erlittenen Hirntraumas, im übrigen müsse die MdE der vorherigen Hirnerkrankung sowie einer wahrscheinlich anlagebedingten endokrinen Erkrankung, nämlich einer Akromegalie, zur Last gelegt werde. In einem weiteren Gutachten vom 10.September 1955, das nach ihrer Ansicht keine Änderung der Untersuchungsbefunde ergeben habe, hielt die Klinik an ihrer Meinung fest. Hierauf setzt die Beklagte durch Bescheid vom 25. Oktober 1955 wegen Änderung der Verhältnisse die Dauerrente auf 25 v.H. der Vollrente herab.

In dem daraufhin vom Kläger eingeleiteten Klageverfahren erklärte sich die Beklagte - entsprechend dem Vorschlag des vom Sozialgericht (SG) Wiesbaden eingeholten Gutachtens der Nervenabteilung der Med. Universitäts-Klinik-H vom 29. Juli 1956 - in der mündlichen Verhandlung vom 30. Januar 1957 bereit, vom 1. Dezember 1955 an Dauerrente nach einer MdE um 30 v.H. zu gewähren. Auf Antrag beider Beteiligter beschloß das SG in diesem Verhandlungstermin, das Land Hessen, vertreten durch das Landesversorgungsamt (LVersorgA), beizuladen; der Kläger hatte geltend gemacht, daß seine Hirnschädigung, soweit sie keine Folge des Arbeitsunfalls vom 6. August 1946 sei, auf die Strapazen seines Kriegsdienstes zurückzuführen und somit durch die Beigeladene zu entschädigen sei. In der mündlichen Verhandlung vom 24. April 1957 erkannte die Beklagte laut Sitzungsniederschrift den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Gewährung einer Dauerrente von 30 v.H. der Vollrente ab 1. Dezember 1955 an. Der Vertreter des beigeladenen Landes Hessen stellte keinen Antrag.

Das Versorgungsamt (VersorgA) Frankfurt hatte durch Bescheid vom 17. August 1953 den im Jahre 1951 gestellten Antrag des Klägers auf Versorgungsrente mit der Begründung abgelehnt, daß für die nach dem Gutachten des von ihm als Sachverständigen gehörten Nervenfacharztes Privatdozenten Dr. W vorhandene Erweiterung der Hirnkammern der Arbeitsunfall von 1946 ursächlich sei, somit keine Schädigungsfolge im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vorliege. Der Kläger hatte zur Begründung seines Rentenantrags darauf hingewiesen, daß ihm im Januar 1944 wegen eines Wachvergehens befohlen worden sei, 10 Tage lang nach Dienstschluß jeweils einen Gepäckmarsch von 30 km zurückzulegen; infolge körperlicher Schwäche sei er am 2. Tag zusammengebrochen. Den Bescheid vom 17. August 1953 focht der Kläger nicht an.

Aufgrund der Erörterung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung vor dem SG Wiesbaden am 30. Januar 1957 beantragte der Kläger mit Schreiben vom 1.Februar 1957 beim VersorgA F, ihm nach § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) einen Zugunstenbescheid zu erteilen. Diesen Antrag lehnte das VersorgA durch Bescheid vom 24. Januar 1958 mit der Begründung ab, daß sich gegenüber dem Ablehnungsbescheid vom 17. August 1953 keine neuen Gesichtspunkte dafür ergeben hätten, daß die Erkrankung des Klägers eine Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG sei. Widerspruch, Klage und Berufung waren ohne Erfolg (ablehnender Widerspruchsbescheid vom 26.Februar 1958, Urteil des SG Frankfurt vom 7. Juli 1961, Urteil des Hessischen Landessozialgerichts - LSG - vom 24. Oktober 1962). Das LSG ist der Auffassung, daß das VersorgA nicht ermessensfehlerhaft gehandelt habe, indem es daran festhalte, daß sein Bescheid vom 17. August 1953 aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen zutreffe. Die gegen das Urteil des Berufungsgerichts eingelegte - nicht zugelassene - Revision verwarf das Bundessozialgericht (BSG) durch Beschluß vom 15. Juni 1964 als unzulässig mit der Begründung, daß die gerügten Mängel des Verfahrens nicht gegeben seien.

Angesichts des für ihn in der Versorgungsstreitsache ungünstigen Ausgangs des Klageverfahrens vor dem SG Frankfurt beantragte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 7. August 1961 bei der beklagten landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft (LBG), dem Kläger wieder Dauerrente nach einer MdE um 70 v.H. statt 30 v.H. zu gewähren. Der Kläger habe seinen Klagantrag im Verhandlungstermin vor dem SG Wiesbaden am 24. April 1957 nur deshalb entsprechend ermäßigt, weil der Vorsitzende der Kammer sich dahin geäußert habe, daß der Kläger sich wegen seines 30 v.H. übersteigenden Schadens an das VersorgA halten müsse, da dieser insoweit eine Wehrdienstschädigungsfolge sei. Die LBG antwortete dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 17. August 1961, daß eine Änderung der entsprechend den Anerkenntnissen vom 30. Januar und 24. April 1957 gewährten Unfallrente nur unter den - bisher nicht glaubhaft gemachten - Voraussetzungen des § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) möglich sei. Im Widerspruchsbescheid vom 23. November 1961 führte sie ferner aus, daß auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines günstigeren Bescheides nach § 619 RVO nicht gegeben seien.

Das SG Frankfurt hat in dem hierauf durchgeführten Rechtsstreit durch Beschluß vom 9. April 1962 das Land Hessen, vertreten durch das LVersorgA Hessen, beigeladen. Es hat Beweis durch Zeugen und Sachverständige darüber erhoben, ob für die Erkrankung des Klägers teilweise nachteilige Einflüsse des Wehrdienstes ursächlich seien. Dem Beigeladenen hat es schließlich vorgeschlagen, dem Kläger vom 1. Dezember 1955 an Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v.H. zu gewähren; bei der von der beklagten LBG gewährten Unfallrente von 30 v.H. solle es sein Bewenden haben. Der Beigeladene hat erwidert, daß der Rentenherabsetzungsbescheid der LBG vom 25. Oktober 1955 der Rechtsgrundlage entbehre und diese deshalb nach § 619 RVO zur Erteilung eines Zugunstenbescheides verpflichtet sei. Nachdem der Verwerfungsbeschluß des BSG vom 15. Juni 1964 ergangen war, hat der Beigeladene beantragt, seine Beiladung aufzuheben, weil nunmehr rechtskräftig festgestellt sei, daß der Kläger keinen Rechtsanspruch auf Leistungen der Kriegsopferversorgung habe. Diesem Antrag hat das SG durch Beschluß vom 22. Juli 1965, den es im Verhandlungstermin vom 27. Juli 1965 bekanntgegeben hat, entsprochen.

In der mündlichen Verhandlung vom 22. Juni 1966 hat das SG u.a. beschlossen:

"Das Versorgungsamt F ist im Sinne des § 181 SGG zu verständigen".

Das LVersorgA Hessen hat mit Schreiben vom 26.Juli 1966 mitgeteilt, daß die Versorgungsleistungen ablehnenden Bescheide vom 17. August 1953, 24. Januar 1958 und 26. Februar 1958, deren Richtigkeit in drei Instanzen bestätigt worden sei, nicht aufgehoben würden.

Der Kammervorsitzende hat durch Beschluß vom 30.August 1966 "gemäß Beschluß in der mündlichen Verhandlung vom 22. Juni 1966" die Sache zur Entscheidung an das Hess. LSG nach § 181 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) abgegeben. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Der Widerspruchsbescheid der beklagten LBG vom 23. November 1961 sei nicht zu beanstanden. Aufgrund der Beweisaufnahme bestünden indessen keine begründeten Zweifel mehr, daß der Leidenszustand des Klägers, soweit er nicht eine Folge des Arbeitsunfalls vom 6. August 1946 sei, auf eine im Jahre 1944 durch den Wehrdienst hervorgerufene Schädigung zurückzuführen sei.

Das Hess. LSG hat durch Beschluß vom 19. April 1967 diese Entscheidung aufgehoben und die Sache zur Entscheidung nach § 181 SGG an das BSG abgegeben. Die Entscheidung ist im wesentlichen wie folgt begründet: Gemeinsam nächsthöheres Gericht im Sinne dieser Vorschrift könne nicht das LSG sein, weil es durch das Urteil vom 24. Oktober 1962 über den Versorgungsanspruch des Klägers selbst sachlich entschieden habe. Die Rechtsprechung des BSG (BSG 14, 177) stehe dem nicht entgegen, weil dieser Streitsache ein anderer Sachverhalt zugrunde liege.

Das SG und das LSG haben in ihren Entscheidungen den Kläger sowie die LBG als Beteiligte bezeichnet und diesen ihre Entscheidung zugestellt.

Die beklagte LBG hält die Auffassung des SG, daß das Land Hessen zur Entschädigung verpflichtet sei, für zutreffend. Sie beantragt, den Leistungspflichtigen entsprechend dem Beschluß des SG zu bestimmen.

Der Kläger ist der Meinung der Beklagten beigetreten. Er hat denselben Antrag wie die Beklagte gestellt.

II

Das SG ist der Auffassung, daß der Klage, mit der die Beseitigung der für den Kläger ungünstigen Prozeßerklärung vom 24. April 1957 sowie die Wiederherstellung des Bescheides der beklagten LBG vom 21. Juli 1950, also die Weitergewährung einer Dauerrente von 70 v.H. der Vollrente erstrebt wird, kein Erfolg beschieden, vielmehr die MdE durch Unfallfolgen mit 30 v.H. zutreffend bewertet sei. Dagegen ist nach der Auffassung des Erstgerichts der Bescheid des VersorgA F vom 17. August 1953, welcher Versorgung abgelehnt und dessen Aufhebung im Verfahren nach § 40 VerwVG der Kläger erfolglos betrieben hatte, rechtswidrig; somit sei die Durchführung eines Verfahrens nach § 181, § 180 Abs. 2 SGG geboten, zumal da die Versorgungsverwaltung es erneut abgelehnt habe, dem Kläger einen Zugunstenbescheid zu erteilen. Das SG sieht als zur Entscheidung berufenes gemeinsam nächsthöheres Gericht im Sinne des § 181 SGG das ihm übergeordnete LSG an. Dieses ist dagegen der Auffassung, daß das BSG zuständig sei.

Der Beschluß des LSG begegnet schon insofern Bedenken, als nach der Rechtsprechung des Senats (BSG 14, 177, 179; siehe auch BSG 11, 92, 93) in dem vom SG im Rahmen einer - gemäß § 619 RVO (in der bis zum 30.6.1963 geltenden Fassung, nunmehr § 627 RVO) betriebenen - Unfallstreitsache nach § 181 SGG von Amts wegen eingeleiteten Wiederaufnahmeverfahren nicht nur der Unfallversicherungsträger, sondern auch der Träger der Kriegsopferversorgung beteiligt ist. Das LSG hat in seinem Beschluß indessen - ebenso wie schon unzutreffenderweise das SG - allein die LBG als Beklagte bezeichnet; es hat seine Entscheidung der von dem Verfahren mitbetroffenen Versorgungsverwaltung ersichtlich auch nicht zugestellt.

Der Vorlagebeschluß der Vorinstanz ist aber auch aus dem weiteren Grunde aufzuheben, weil vorliegendenfalls das BSG nicht das gemeinsam nächsthöhere Gericht im Sinne des § 181 Satz 1 SGG ist.

Die Frage, über die hier zu entscheiden ist, hängt in erster Linie von der Würdigung von Tatsachen ab. Wie der Senat im Urteil vom 27. April 1961 (BSG 14, 177, 180) des näheren ausgeführt hat, widerspricht es im allgemeinen dem Sinn des § 181 SGG, das grundsätzlich als Revisionsinstanz errichtete BSG mit Streitsachen zu befassen, in denen tatsächliche Feststellungen zu treffen sind, Der Umstand, daß das BSG wegen des durch Bescheid vom 17.August 1953 bindend abgelehnten Versorgungsrentenanspruchs in dem später vom Kläger nach § 40 VerwVG angestrengten Verfahren eine Entscheidung getroffen hat, steht nicht entgegen, weil das BSG in diesem Rechtsstreit in der Sache nicht entschieden hat. Dies war dem BSG nicht möglich, weil die - vom Berufungsgericht nicht zugelassene - Revision wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden mußte. Aufgrund eines nach § 40 VerwVG - dasselbe gilt für die in den verschiedenen Gebieten der Sozialversicherung vorgesehenen ähnlichen Verfahren (§§ 627, 1300 RVO, 79 AVG, 93 RKG) - erfolglos durchgeführten Verfahrens steht überdies selbst nach Ausschöpfung des gerichtlichen Instanzenzuges nicht rechtskräftig fest, daß der Antragsteller keinen Rechtsanspruch auf die begehrte Leistung hat. Die gerichtliche Entscheidung beschränkt sich in Fällen dieser Art vielmehr darauf, ob der bindend gewordene Bescheid, an dem die Stelle, die ihn erlassen hat, festhält, unter keinem tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt "zu halten ist" (BSG 19, 286, 287; SozR Nr. 3, 10 zu § 40 VerwVG, Breithaupt 1965, 1025, 1026; SozR Nr. 1 zu § 619 RVO aF, Aa 2; SozR Nr. 7 zu § 1300 RVO).

Das BSG ist somit nicht das gemeinsam nächsthöhere Gericht im Sinne von § 181 Satz 1, § 180 Abs. 2 SGG (vgl. auch den Beschluß des 8.Senats des BSG vom 14. Dezember 1966 - BSG 26, 38 - dessen Rechtsauffassung der Senat im Beschluß vom 27.September 1968 - 2 S 1/65 - beigetreten ist).

Der Vorlagebeschluß des LSG war deshalb aufzuheben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2285197

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