Leitsatz (amtlich)

Hält das LSG im Verfahren gegen einen Versicherungsträger einen Versorgungsträger für leistungspflichtig, der den Anspruch bindend abgelehnt hat, so ist in dem vom Amts wegen eingeleiteten Wiederaufnahmeverfahren das LSG das "gemeinsam nächsthöhere Gericht", sofern es im Falle einer Anfechtung des Verwaltungsakts das zur Entscheidung - im Instanzenzuge - zuständige Gericht gewesen wäre.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein "nächsthöheres Gericht" gibt es nicht nur hinsichtlich einer Gerichtsentscheidung, sondern auch hinsichtlich eines nachzuprüfenden Verwaltungsakts.

2. Welches Gericht in den verschiedenen Fällen der SGG §§ 180, 181 zur Entscheidung berufen ist, muß durch Auslegung des nicht eindeutigen Gesetzeswortlauts aus dem Sinn und zweck der Vorschriften ermittelt werden.

3. Ist in einem Wiederaufnahmefalle des SGG § 181 die als aufhebungsbedürftig in Betracht gezogene Entscheidung ein Bindender Verwaltungsakt und wäre das Gericht, welches das Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet hat, im Falle der Anfechtung des Verwaltungsakts für die Entscheidung über die Klage zuständig gewesen, dann ist ein höheres Gericht als das mit dem gerichtlichen Verfahren befaßte mit der Bestimmung des Leistungspflichtigen nicht zu betrauen.

Das mit der Sache befaßte Gericht fällt dann gegebenenfalls eine Entscheidung zu der es auch im Falle der Anfechtung des Verwaltungsakts - entweder als erste Instanz oder im Rechtszuge - berufen gewesen wäre.

 

Normenkette

SGG § 180 Fassung: 1953-09-03, § 181 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Der Beschluß des Landessozialgerichts Berlin vom 21. Januar 1960 wird aufgehoben.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin war während des zweiten Weltkrieges als Motorenschlosser zu der Firma Flugbetrieb Sch... GmbH in B... dienstverpflichtet und dort als Propellerkontrolleur beschäftigt. Am 7. Februar 1944 zog er sich bei der Explosion einer Phosphorbrandbombe, die nach einem Luftangriff als Blindgänger liegen geblieben war, schwere Brandwunden zu; an deren Folgen starb er am 16. März 1944.

In einer Unfallanzeige vom 12. März 1944, welche die Betriebsleitung an die beklagte Berufsgenossenschaft (Beklagte zu 1.) erstattet hatte, heißt es: Der Ehemann der Klägerin habe von einem Stapel gesammelter Flaksplitter und Blindgänger einen Phosphorkanister aufgehoben, um ihn seinem Arbeitskameraden K... K... zu zeigen; beim Weglegen sei ihm der Kanister anscheinend entglitten und explodiert. Die Beklagte zu 1. gab die Vorgänge "zuständigkeitshalber zur weiteren Veranlassung" an die Versorgungsbehörde ab. Durch Bescheid vom 6. November 1944 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) VI B... den Anspruch der Klägerin ab, weil ein selbstverschuldeter, durch keinen betrieblichen Auftrag veranlaßter Unfall vorliege. Im August 1950 stellte die Klägerin einen Antrag auf Hinterbliebenenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Dieser Antrag wurde durch Bescheid des VersorgA I B... vom 5. Mai 1952 mit folgender Begründung abgelehnt: Ein ursächlicher Zusammenhang des Todes mit einer militärischen oder militärähnlichen Dienstverrichtung oder mit einer unmittelbaren Kriegseinwirkung liege nicht vor; er sei durch die freie Willensbestimmung des Ehemannes der Klägerin unterbrochen worden. Den Einspruch der Klägerin hat das Landesversorgungsamt (LVersorgA) B... am 8. Mai 1953 zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin keinen Rechtsbehelf eingelegt.

Im Juni 1953 beantragte die Klägerin unter Hinweis darauf, daß ihr aus Anlaß der tödlichen Verletzung ihres Ehemannes kein Versorgungsanspruch zustehe, eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Beklagte zu 1. lehnte den Antrag durch Bescheid vom 9. März 1954 mit folgender Begründung ab: Der Ehemann der Klägerin habe sich aus rein persönlichen Beweggründen mit dem Blindgänger befaßt; ein ursächlicher Zusammenhang mit seiner Betriebstätigkeit habe nicht bestanden. Ein Arbeitsunfall liege daher nicht vor. Im übrigen sei nach § 54 BVG die Versorgungsbehörde zuständig, weil die Schädigung durch Kriegseinwirkungen entstanden sei.

Diesen Bescheid hat die Klägerin mit der Klage beim Sozialgericht (SG) Berlin angefochten. Zur Begründung hat sie im wesentlichen vorgetragen: Die Unfallschilderung in der Anzeige der Firma Flugbetrieb Sch... GmbH sei unrichtig. Ihr Ehemann habe sich mit dem Phosphorkanister nicht aus Neugierde oder, um ihn seinem Arbeitskameraden K... zu zeigen, befaßt, vielmehr habe er ihn aus dem Wege räumen wollen, um eine Gefahr von in der Halle abgestellten Maschinen und von vorbeigehenden Arbeitern abzuwenden. Das SG hat Grund einer von ihm durchgeführten Beweisaufnahme die Sachdarstellung der Klägerin als erwiesen angesehen. In rechtlicher Hinsicht hat es einen Arbeitsunfall im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO) angenommen. Es hat deshalb durch Urteil vom 10. Juli 1957 die Beklagte zu 1. dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin aus Anlaß des Unfalls ihres Ehemannes vom 7. Februar 1944 die Unfall-Witwenrente zu gewähren. In § 54 BVG hat es keinen Hinderungsgrund für die Verurteilung der Beklagten gesehen, weil ein versorgungsrechtlich erheblicher Tatbestand nicht vorliege.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte zu 1. Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Berlin eingelegt. Sie hat in erster Linie die Beweiswürdigung des SG angegriffen und sich auf den Boden der in der Unfallanzeige von 1944 enthaltenen Schilderung gestellt. Für den Fall, daß das LSG denselben Sachverhalt als erwiesen ansehe wie das SG, hat sie die Auffassung vertreten, es sei eine gesundheitsschädigende Einwirkung im Sinne des § 1 BVG und deshalb die Leistungspflicht der Versorgungsbehörde gegeben.

Das LSG hat durch Beschluß vom 18. Januar 1960 das Land Berlin zum Verfahren beigeladen. Auf Grund mündlicher Verhandlung vom 21. Januar 1960 hat es die Sache - einem von der Beklagten zu 1. hilfsweise gestellten Antrag entsprechend - gemäß § 181 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zur Entscheidung an das Bundessozialgericht (BSG) abgegeben.

Das LSG ist der Beweiswürdigung des SG gefolgt. In rechtlicher Hinsicht hat es ausgeführt: Der Unfall des Ehemannes der Klägerin stelle sowohl einen Arbeitsunfall im Sinne des § 542 RVO als auch eine Schädigung nach dem BVG dar. Entgegen der Auffassung des SG sei eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG gegeben; denn die Explosion des von dem Verletzten zur Abwendung einer allgemeinen Gefahr aus dem Wege geräumten Brandkanisters stelle eine nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge dar, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hätten. Da beim Zusammentreffen eines Arbeitsunfalls und einer gesundheitsschädigenden Einwirkung nach dem BVG aus der Zeit vom 1. Januar 1942 bis 8. Mai 1945 nur ein Versorgungsanspruch bestehe, ein solcher aber bereits bindend abgelehnt sei, müsse der in § 181 SGG vorgesehene Weg beschritten werden.

Die Beklagte zu 1. hat für den Fall, daß die Zuständigkeit des BSG gegeben sei, beantragt, unter Aufhebung des Urteils des SG Berlin vom 10. Juli 1957 die Klage abzuweisen, und außerdem anheimgestellt, das Land Berlin unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides des VersorgA I B... vom 5. Mai 1952 für leistungspflichtig zu erklären. Die übrigen Beteiligten haben keine Anträge gestellt.

II

Das LSG hat die Streitsache mit Recht als ein Wiederaufnahmeverfahren nach § 181 SGG behandelt. Voraussetzung für ein solches Verfahren ist, daß ein Gericht - hier das LSG - die Klage gegen einen Versicherungsträger - hier die beklagte Berufsgenossenschaft - abweisen will, weil es einen anderen Versicherungs- oder Versorgungsträger - hier das Land Berlin - für leistungspflichtig hält, obwohl dieser den Anspruch bereits endgültig abgelehnt hat. Diese Voraussetzungen hat das LSG als gegeben erachtet; es hat demgemäß das Land Berlin - durch Zustellung eines Beiladungsbeschlusses - verständigt und die Sache zur Entscheidung an das nach seiner Meinung zuständige BSG abgegeben. Damit hat es das Wiederaufnahmeverfahren, wie im Gesetzt vorgesehen, von Amts wegen eingeleitet. In diesem Verfahren ist das Land Berlin ebenso Beklagter wie die in dem ursprünglichen, noch nicht abgeschlossenen Klageverfahren von der Klägerin in Anspruch genommene Berufsgenossenschaft; denn das Wiederaufnahmeverfahren richtet sich auch und in erster Linie gegen die Verwaltung, die den bindend gewordenen Verwaltungsakt erlassen hat. Für eine Beiladung des schon als Beklagten am Wiederaufnahmeverfahren beteiligten Landes war daher kein Raum (vgl. hierzu BSG 11, 92 betr. das Wiederaufnahmeverfahren nach § 180 SGG).

Entgegen der Auffassung des LSG ist jedoch das BSG für die Bestimmung des Leistungspflichtigen nicht zuständig. § 181 SGG bezeichnet "das gemeinsam nächsthöhere Gericht" als zuständig. Was hierunter zu verstehen ist, kann vor allem in den Fällen zweifelhaft sein, in denen ein Gericht lediglich von einem bindenden Verwaltungsakt abweichen will, eine entgegenstehende rechtskräftige gerichtliche Entscheidung also nicht vorliegt. Für solche Fälle fehlt es nicht etwa an einer gesetzlichen Zuständigkeitsregelung, wie in einer Entscheidung des Hessischen LSG vom 25. August 1959 (Breith. 1960, 279) mit der Begründung angenommen wird, der Ausdruck "gemeinsam nächsthöheres Gericht" setze begriffsnotwendigerweise zwei Gerichtsentscheidungen voraus. Es erscheint schlechthin ausgeschlossen, den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organen und Ausschüssen zu unterstellen, daß sie, obwohl die Wiederaufnahme eines durch bindenden Verwaltungsakt abgeschlossenen Verfahrens sowohl in § 180 als auch in § 181 SGG an erster Stelle geregelt ist, übersehen hätten, das für die Wiederaufnahme zuständige Gericht zu bestimmen. Die Regelung ist in dem

Ausdruck "gemeinsam nächsthöheres Gericht" zu finden; denn ein "nächsthöheres Gericht" gibt es nicht nur hinsichtlich einer Gerichtsentscheidung, sondern auch hinsichtlich eines nachzuprüfenden Verwaltungsakts. Welches Gericht in den verschiedenen Fällen der §§ 180, 181 SGG zur Entscheidung berufen ist, muß durch Auslegung des nicht eindeutigen Gesetzeswortlauts aus dem Sinn und Zweck der Vorschriften ermittelt werden.

Soll beispielsweise eine rechtskräftige Entscheidung eines SG im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens - sei es nach § 180, sei es nach § 181 SGG - aufgehoben werden, so kann hierzu, wie das Hessische LSG (aaO) mit Recht hervorgehoben hat, ein gleichgeordnetes Gericht also ein anderes SG, nicht berufen sein, es mußte vielmehr das "nächsthöhere Gericht" für zuständig erklärt werden. Darüber hinaus bedurfte es einer näheren Bestimmung für den Fall, daß die beteiligten Sozialgerichte verschiedenen Ländern angehören; denn für die Änderung eines SG-Urteils kann nicht das LSG eines anderen Landes zuständig sein. Deshalb war es nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen erforderlich, das "gemeinsam nächsthöhere Gericht" für zuständig zu erklären.

Ist in einem Wiederaufnahmefalle des § 181 SGG die als aufhebungsbedürftig in Betracht gezogene Entscheidung ein bindender Verwaltungsakt und wäre das Gericht, welches das Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet hat, im Falle der Anfechtung des Verwaltungsakts für die Entscheidung über diese Klage zuständig gewesen, so fehlt es, wie das Hessische LSG aaO im Ergebnis mit Recht angenommen hat, sowohl an dem oben dargelegten als auch an einem. anderen einleuchtenden Grund, ein höheres Gericht als das mit dem gerichtlichen Verfahren befaßte mit der Bestimmung des Leistungspflichtigen zu betrauen. Das mit der Sache befaßte Gericht fällt dann gegebenenfalls eine Entscheidung, zu der es auch im Falle der Anfechtung des Verwaltungsakts - entweder als erste Instanz oder imi Rechtszuge - berufen gewesen wäre. Dieses Ergebnis ist auch deshalb wünschenswert, weil es die Beteiligten nicht unnötigerweise im Instanzenzuge beschränkt und das grundsätzlich als Revisionsinstanz vorgesehene BSG nicht mehr als erforderlich mit Streitsachen belastet, in denen tatsächliche Feststellungen zu treffen sind. Ferner spricht hierfür, daß die in § 179 Abs. 1 SGG für entsprechend anwendbar erklärten Vorschriften des Vierten Buches der Zivilprozeßordnung (ZPO) die Tendenz erkennen lassen, die Zuständigkeit für Wiederaufnahmeverfahren, in denen neue Tatsachenfeststellungen in Betracht kommen, von dem höchstinstanzlichen Gericht nach Möglichkeit fernzuhalten (§ 584 ZPO).

Aus den angeführten Gründen ist nach Auffassung des Senats das LSG Berlin zur Bestimmung des Leistungspflichtigen, berufen, da es zur Überprüfung des bindend gewordenen Verwaltungsakts der Versorgungsbehörde im Falle seiner Anfechtung - im Instanzenzug - zuständig gewesen wäre. Diese Auffassung wird von Rohwer-Kahlmann (Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Komm. Erl. 3 c, d zu §§ 180 bis 182 SGG) geteilt; gegenteilige Stellungnahmen liegen im Schrifttum, soweit ersichtlich, nicht vor. In einem Wiederaufnahmefalle des § 180 SGG, in dem der Antrag einen bindenden Verwaltungsakt und ein rechtskräftiges Urteil eines LSG betraf, hat allerdings der 8. Senat des BSG sich für die Entscheidung als zuständige angesehen (BSG 11, 92). Daraus ergab sich für den erkennenden Senat nach seiner Auffassung jedoch nicht die Notwendigkeit, den Großen Senat anzurufen (§ 42 SGG), weil in jenem Fallet ein rechtskräftiges Urteil des LSG vorlag, im vorliegenden Streitfalle aber das Verfahren vor dem LSG noch schwebt.

Hiernach mußte der Abgabebeschluß des LSG aufgehoben werden. Seiner Aufhebung stand § 98 SGG nicht entgegen, weil ein Fall der Unzuständigerklärung eines Gerichts nicht vorliegt. Das LSG wird den Leistungspflichtigen selbst zu bestimmen haben. Dabei wird es auch zu den im Berufungsverfahren von der Beklagten zu 1. gestellten weiteren Beweisanträgen Stellung zu nehmen und vor allem zu prüfen haben, ob der Zeuge K... - auch zu der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG abgegebenen Erklärung - nochmals zu vernehmen sein wird.

 

Fundstellen

BSGE, 177

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