Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 09.09.1998)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. September 1998 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Klägerin wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls, den sie am 8. Januar 1990 erlitten hat, Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 20 vH über den 31. Januar 1991 hinaus hat. Die Beklagte gewährte ihr mit Bescheid vom 26. Juli 1991 Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH lediglich vom 5. Juni 1990 bis zum 31. Januar 1991 und erkannte als Unfallfolgen „Mitbeteiligung an einer reaktiven Bewegungseinschränkung im linken Handgelenk sowie an einer reaktiven Funktionsbeeinträchtigung der linken Hand” an. Der Widerspruch der Klägerin, mit dem sie weitere Leiden als Folgen des Arbeitsunfalls geltend machte, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 1992 zurück. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) am 9. September 1998 wurde laut Sitzungsniederschrift dem Bevollmächtigten der Klägerin ein Schriftsatz des Beklagten vom 3. September 1998 ausgehändigt, der diesem am 4. September 1998 per Telefax übersandt worden ist. Als der Bevollmächtigte der Klägerin erklärte, diesen Schriftsatz nicht erhalten zu haben, wurde die Sitzung daraufhin kurz unterbrochen. Nach deren Fortsetzung stellte der Bevollmächtigte der Klägerin neben dem Sachantrag den Hilfsantrag, ein Gutachten gemäß § 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von einem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie zu der von der Klägerin geltend gemachten Schmerzsymptomatik einzuholen. Das LSG hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 9. September 1998 zurückgewiesen. Es ist zu dem Ergebnis gelangt, daß die festgestellten unfallbedingten Beschwerden der Klägerin nicht zu einer MdE von 20 vH geführt haben.

Mit Schriftsatz vom 16. Oktober 1998 hat die Klägerin einen Antrag auf Berichtigung der Sitzungsniederschrift gestellt. Nach dem Satz „Der Bevollmächtigte der Klägerin erklärt daraufhin, diesen Schriftsatz nicht erhalten zu haben” müsse folgender Satz ins Protokoll aufgenommen werden: „Der Bevollmächtigte beantragt Aussetzung des Rechtsstreits zur Gewährung rechtlichen Gehörs, um auf den Schriftsatz der Beklagten vom 3. September 1998 sowie die daraufhin geäußerten Bedenken des Gerichts Stellung zu nehmen.” Die Vorsitzende des 17. Senats des LSG hat mit Schreiben vom 28. Oktober 1998 die beantragte Ergänzung des Protokolls abgelehnt. Der Bevollmächtigte der Klägerin habe zwar nach Überreichen des Schriftsatzes vom 3. September 1998 eine Schriftsatzfrist beantragt, habe jedoch auf ihren Hinweis hin, der Schriftsatz enthalte nur eine zusammenfassende gutachterliche Würdigung des Beklagten, und nach einer Unterbrechung der Sitzung, während der er den Schriftsatz habe lesen und mit der Klägerin besprechen können, an diesem Antrag – für den Senat offenkundig – nicht festgehalten. Dies werde auch aus dem vorgelesenen und genehmigten Hauptantrag deutlich.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil des LSG ist zurückzuweisen. Die als Zulassungsgründe geltend gemachten Verfahrensfehler liegen nicht vor. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG).

Die Rüge der Klägerin, das LSG habe den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes, §§ 62, 128 Abs 2 SGG) dadurch verletzt, daß das LSG ihr nicht Gelegenheit gegeben habe, zu einem in der mündlichen Verhandlung übergebenen überraschenden Schriftsatz des Beklagten ausreichend Stellung zu nehmen, ist unbegründet. Dabei kann offenbleiben, ob die kurze Unterbrechung der Sitzung, in der die Klägerin selbst und ihr Prozeßbevollmächtigter Gelegenheit hatten, den Inhalt des überreichten Schriftsatzes zur Kenntnis zu nehmen, ausreichte, um dem Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör in vollem Umfang Rechnung zu tragen. Jedenfalls kann die Klägerin eine Verletzung der genannten Vorschriften nicht mehr rügen, weil sie auf deren Verfolgung verzichtet hat. Nach § 295 Abs 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 202 SGG kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozeßhandlung betreffenden Vorschrift ua dann nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet. Zu den Verfahrensverstößen, bei denen ein Verlust des Rügerechts gemäß § 295 Abs 1 ZPO eintreten kann, gehört auch die Verletzung des rechtlichen Gehöres (Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 200 mwN). Der Verzicht nach dieser Vorschrift kann auch stillschweigend oder durch konkludentes Handeln ausgesprochen werden (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 57. Aufl § 295 RdNr 9; Thomas/Putzo, ZPO, 21. Aufl, § 295 RdNr 4). Insbesondere wird das Recht auf rechtliches Gehör nicht „versagt”, wenn der Betroffene oder sein Vertreter es unterläßt, von den ihm verfahrensrechtlich gebotenen Möglichkeiten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, Gebrauch zu machen (BVerwGE 19, 231, 237; BVerwG Buchholz 303 § 295 ZPO Nr 8). In der Sitzungsniederschrift vom 9. September 1998, mit der allein die Beachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten bewiesen werden kann (§ 165 Satz 1 ZPO iVm § 122 SGG) und deren Änderung unanfechtbar abgelehnt worden ist (Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, § 122 RdNr 9 mwN), ist jedoch ein Antrag der Klägerin auf Vertagung des Termins oder gar Aussetzung des Verfahrens nicht protokolliert. Damit steht für den Senat bindend fest, daß ein Vertagungsantrag oder gar ein Antrag auf Aussetzung des Verfahrens nicht gestellt worden ist. Hinzu kommt, daß die Niederschrift als Hauptantrag einen Sachantrag der Klägerin enthält.

Einen solchen Antrag würde im Regelfall jedenfalls ein rechtskundig vertretener Beteiligter nicht stellen, wenn er aufgrund einer Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör eine Vertagung oder gar eine Aussetzung des Verfahrens für erforderlich hält. Da in dem Verhalten des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin somit ein Verzicht auf die Rüge eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör liegt, sind die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht erfüllt.

Die weitere Rüge der Klägerin, das LSG sei ohne hinreichende Begründung ihrem Beweisantrag, „hilfsweise ein Gutachten gemäß § 106 SGG von einem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie zu der von der Klägerin geltend gemachten Schmerzsymptomatik einzuholen,” nicht gefolgt, kann ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision führen. Ohne hinreichende Begründung bedeutet hier, daß die Revision zuzulassen ist, wenn das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5 sowie ua Beschluß des Senats vom 8. Dezember 1998 – B 2 U 262/98 B –). Zu einer weiteren Aufklärung hätte nur dann zwingende Veranlassung bestanden, wenn nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen (oder medizinischen) Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des LSG erkennbar offengeblieben wären (ständige Rechtsprechung des Senats, s ua Beschluß vom 8. Dezember 1998 aaO). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Das LSG hat in dem angefochtenen Urteil eine zumindest hinreichende Begründung dafür gegeben, warum es keinen Anlaß sah, wegen der bei der Klägerin vorhandenen Schmerzen ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen. So hat es in diesem Zusammenhang im angefochtenen Urteil folgendes ausgeführt:

„Nicht zu folgen vermag der Senat der Auffassung des Nervenarztes Dr. G. G. … (Gutachten vom 21.04.1998). Die von ihm diagnostizierte Sensibilitätsminderung im Bereich des Nervus radialis superficialis links wurde von Dr. U. H., … Prof. Dr. R. L. … und Dr. V. F. … ebenfalls bei der Schätzung der MdE berücksichtigt. Für massive brennende Schmerzen und trophische Störungen im Sinne eines außergewöhnlichen Schmerzsyndroms läßt das Gutachten jedoch jede Begründung vermissen. Aus der Akte ergibt sich zwar, daß die Klägerin wiederholt Schmerzen der linken Hand z. B. beim Greifen – nicht jedoch in Ruhe – geklagt hat, ebenso wie über Schmerzen seitens der HWS, nicht jedoch ergibt sich ein Anhaltspunkt für massive Schmerzen. Nachdem sämtlichen Gutachtern bekannt war, daß die Klägerin Schmerzen hat und sie geltend macht, war ein weiteres Gutachten hinsichtlich der nunmehr dargelegten Schmerzsymptomatik nicht mehr veranlaßt, denn die gehörten Gutachter haben die Schmerzsymptomatik in ihre MdE-Bewertung einfließen lassen.”

Diese im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gemachten eingehenden Ausführungen des LSG sind eine zumindest hinreichende Begründung, weshalb es von der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens abgesehen hat, zumal das nach § 109 SGG eingeholte Gutachten des Nervenarztes Dr. G. G. … und damit auch eine Bewertung der Schmerzsymptomatik aus nervenärztlicher Sicht bei der Entscheidung des LSG berücksichtigt worden ist. Wenn die Klägerin beanstandet, das LSG habe die von ihr geäußerte Schmerzsymptomatik nicht ausreichend gewürdigt und aufgeklärt, betrifft dieses Vorbringen im Kern die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts. Solche Rügen sind im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG ausdrücklich ausgeschlossen. Dieser Hinweis soll keinesfalls Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Beweiswürdigung durch das LSG andeuten.

Die Beschwerde war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

SozSi 2000, 108

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