Leitsatz (amtlich)

1. Die Gebühren der Rechtsanwälte in Verfahren aus dem Kassenarztrecht (BRAGebO § 116 Abs 2 Nr 1) richten sich bei Vertretung eines Beteiligten in einem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nach dem Gegenstandswert, den im Falle einer erfolgreichen Beschwerde und Einlegung der Revision das Revisionsverfahren (Hauptsache) gehabt hätte.

2. In Streitigkeiten über die Entziehung einer Kassenzulassung hat das Gericht den Gegenstandswert nach billigem Ermessen zu bestimmen; auszugehen ist dabei von den Honorareinnahmen abzüglich der Praxiskosten (Reineinnahmen), die dem Kassenarzt oder -zahnarzt infolge der Zulassungsentziehung schätzungsweise entgangen sind.

 

Normenkette

RVO § 368a; SGG § 160a Fassung: 1974-07-30; BRAGebO § 116 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1975-08-20, § 8 Fassung: 1975-08-20

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 04.03.1976; Aktenzeichen L 6 Ka 2/71)

SG Kiel (Entscheidung vom 30.10.1970; Aktenzeichen S 8 Ka 31/69)

 

Tenor

Der Gegenstandswert des Verfahrens über die Nichtzulassungsbeschwerde wird auf Antrag des Prozeßbevollmächtigten des Beklagten auf 180.000 DM festgesetzt.

 

Gründe

Nach § 116 Abs. 2 Nr. 1 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung - BRAGO -) vom 26. Juli 1957 (BGBl, I 907) in der Fassung des Kostenänderungsgesetzes vom 20. August 1975 (BGBl I, 2189) - in Kraft seit dem 15. September 1975 (Art. 5 § 6 des Kostenänderungsgesetzes) - werden u. a. in Verfahren auf Grund der Beziehungen zwischen Ärzten, Zahnärzten und Krankenkassen (Kassenarztrecht) die Gebühren der Rechtsanwälte nach dem Gegenstandswert berechnet. Das gilt nach Übergangsvorschriften des Kostenänderungsgesetzes (Art. 5 § 2 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 Satz 2) auch in Verfahren über eine Berufung, eine Revision oder eine Beschwerde (gegen eine den Rechtszug beendigende Entscheidung), wenn das Rechtsmittel - wie hier - nach dem Inkrafttreten des Kostenänderungsgesetzes eingelegt worden ist.

Zu den Verfahren aus dem Kassenarztrecht im Sinne des § 116 Abs. 2 Nr. 1 BRAGO gehören auch Verfahren über eine Nichtzulassungsbeschwerde, wenn die Beschwerde sich gegen ein Urteil eines Landessozialgerichts (LSG) richtet, in dem über die Entziehung einer Kassenzulassung entschieden, die Revision aber nicht zugelassen worden ist. Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens ist dann danach zu berechnen, welchen Wert im Falle einer erfolgreichen Beschwerde und Einlegung der Revision das Revisionsverfahren (Hauptsache) gehabt hätte; denn der Gegenstand des Beschwerdeverfahrens - die Zulassung der Revision - ist vergleichbar einem Streit über die Zulässigkeit der Revision, dessen Wert sich ebenfalls nach dem Wert der Hauptsache bestimmt (so die ständige Praxis der Verwaltungsgerichtsbarkeit für die Wertberechnung der Gerichtskosten; vgl. Lauterbach/Hartmann, Kostengesetze, 18. Aufl., Gerichtskostengesetz - GKG-, Anh. nach § 13 unter "Nichtzulassungsbeschwerde").

Für die Berechnung der Rechtsanwaltsgebühren nach dem Gegenstandswert (§ 116 Abs. 2 BRAGO) gelten - außer den sinngemäß anwendbaren Vorschriften des Dritten Abschnitts der BRAGO (§ 116 Abs. 2 Satz 2) - die allgemeinen Vorschriften des Ersten Abschnitts der BRAGO, mithin auch deren § 8. Danach bestimmt sich in gerichtlichen Verfahren der Gegenstandswert für die Anwaltsgebühren grundsätzlich nach den für die Gerichtsgebühren geltenden Vorschriften (§ 8 Abs. 1 Satz 1); sind jedoch, wie im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. §§ 183 ff des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), für die Gerichtsgebühren keine Wertvorschriften vorgesehen, so ist der Gegenstandswert nach bestimmten sinngemäß anwendbaren Vorschriften der Kostenordnung zu berechnen (§ 8 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Abs. 2 BRAGO). Soweit sich der Gegenstandswert auch aus diesen Vorschriften der Kostenordnung nicht ergibt und auch sonst nicht feststeht, ist er nach billigem Ermessen zu bestimmen (§ 8 Abs. 2 Satz 2 BRAGO). Letzteres trifft für kassenärztliche Zulassungsstreitigkeiten - einschließlich der Streitigkeiten über eine Zulassungsentziehung - zu, da insoweit keine der fraglichen Vorschriften der Kostenordnung anwendbar ist. Für diese Streitigkeiten ist deshalb der Gegenstandswert nach billigem Ermessen zu bestimmen, d. h. zu schätzen; dabei ist § 13 GKG ergänzend heranzuziehen, um Abweichungen gegenüber vergleichbaren Verfahren möglichst zu vermeiden (so mit Recht Lauterbach/Hartmann, aaO, BRAGO § 116 Anm. 3 Ba).

Nach § 13 GKG ist in Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Finanzgerichtsbarkeit der Streitwert grundsätzlich nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen (Abs. 1 Satz 1). Die Bedeutung der Sache für den Kläger entspricht dabei in der Regel seinem wirtschaftlichen Interesse an der erstrebten Entscheidung und ihren Auswirkungen. Erstrecken sich die Auswirkungen auf eine längere Zeit - wie bei Streitigkeiten um eine Berufszulassung oder deren Entziehung (ärztliche Approbation, Zulassung als Rechtsanwalt) - so ist dies gebührend zu berücksichtigen; insofern wird in der Rechtsprechung und im Schrifttum im Interesse der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung der Betroffenen eine Pauschalierung und Schematisierung des Streitwerts in Gestalt von Bewertungsrichtlinien für zulässig und geboten gehalten (vgl. hierzu Lauterbach/Hartmann aaO, GKG § 13 Anm. 2 B u. C). So hält der Bundesgerichtshof (BGH) in anwaltlichen Zulassungssachen es in der Regel für angemessen, den Geschäftswert in Höhe der Einnahmen anzusetzen, die der Bewerber insgesamt aus der Anwaltspraxis im Laufe von etwa 5 bis 10 Jahren voraussichtlich im Falle seiner Zulassung erzielen kann oder im Falle der Versagung der Zulassung hätte erzielen können; dabei sind die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die bisherige Stellung des Bewerbers im Wirtschaftsleben, die Höhe der bisherigen Einnahmen und Vergütungen, die Möglichkeiten, die sich dem Bewerber an dem erstrebten Zulassungsort voraussichtlich bieten werden, ferner sein Alter und seine Gesundheit sowie ähnliche Umstände (BGHZ 39, 110, 116; vgl. auch Lauterbach/Hartmann aaO, Anh. nach § 13 GKG unter "Berufszulassung").

Diese Grundsätze können unbedenklich auf kassenärztliche Zulassungsstreitigkeiten übertragen werden, da die Interessenlage der Beteiligten sich insoweit nicht wesentlich von der an Streitigkeiten über die Berufszulassung als Anwalt oder Arzt beteiligten Personen unterscheidet. Der Senat hat deshalb zunächst ermittelt, welche Vergütungen der Kläger in den letzten 5 Jahren (1972 bis 1976) aus seiner kassenzahnärztlichen Tätigkeit erzielt hat. Von der zuständigen Kassenzahnärztlichen Vereinigung sind - jeweils auf volle 1000 DM auf- oder abgerundet - für das Jahr 1972 71.000 DM, für das Jahr 1973 74.000 DM, für das Jahr 1974 87.000 DM, für 1975 165.000 DM und für 1976 199.000 DM angegeben worden. Da die erhebliche Steigerung der Einnahmen von 1974 zu 1975 sich auch im folgenden Jahr fortgesetzt hat, andererseits der (am 16. Juni 1906 geborene) Kläger inzwischen ein Lebensalter erreicht hat, in dem die körperlichen und geistigen Kräfte abzunehmen pflegen, hält es der Senat für angemessen, bei der Schätzung der Einnahmen, die der Kläger ohne die Entziehung seiner Kassenzulassung in den nächsten Jahren als Kassenzahnarzt erzielt hätte, von dem durchschnittlichen Einkommen der beiden letzten Kalenderjahre (165.000 + 199.000 = 364000 : 2 =) 182.000 auszugehen. Diesen Einkünften hätten wahrscheinlich - ähnlich wie bisher (vgl. Kostenstruktur bei Ärzten, Zahnärzten, Tierärzten 1975, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt; Mitteilungen des Beklagten vom 3. August und 7. Oktober 1977) - Praxisunkosten in Höhe von ca. 50% bis 55% gegenübergestanden, so daß der Kläger in den kommenden Jahren aus seiner kassenzahnärztlichen Tätigkeit schätzungsweise Reineinnahmen von etwa 90.000 DM im Jahr gehabt hätte. Wie lange er seine Kassenpraxis voraussichtlich noch ausgeübt hätte, ist schwer zu beurteilen. Nach Mitteilung der zuständigen kassenzahnärztlichen Vereinigung werden Zahnpraxen erfahrungsgemäß zwischen dem 65. und dem 75. Lebensjahr aufgegeben. Der Kläger hat selbst glaubhaft vorgetragen, er habe die Absicht gehabt, seine kassenzahnärztliche Tätigkeit in absehbarer Zeit zu beenden und hätte dies schon getan, wenn er einen geeigneten Nachfolger gefunden hätte. Hiernach spricht viel dafür, daß der jetzt 71 Jahre alte Kläger (der im Falle einer Aufgabe der Kassenpraxis oder bei Berufsunfähigkeit ein -allerdings nicht hohes - Ruhegehalt aus der sogenannten erweiterten Honorarverteilung für Kassenzahnärzte zu erwarten hat) seine Kassenpraxis nicht über das 73. Lebensjahr hinaus ausgeübt hätte. Ihm sind deshalb nach der Schätzung des Senats infolge der Zulassungsentziehung, die mit der Ablehnung seiner Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig geworden ist (§ 160 a Abs. 4 Satz 4 SGG), bei überschlägiger Berechnung etwa (2 x 90.000 =) 180.000 DM an Einkünften entgangen. In dieser Höhe hat der Senat deshalb den Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren auf Antrag des Prozeßbevollmächtigten des Beklagten durch Beschluß (§ 10 Abs. 1 und 2 BRAGO) festgesetzt.

 

Fundstellen

NJW 1978, 1704

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