Entscheidungsstichwort (Thema)

Fehlen der Entscheidungsgründe

 

Orientierungssatz

1. Bei dem 1. Senat des BSG wird angefragt, ob er an seiner in dem Urteil vom 13.5.1992 - 1 RK 29/91 = SozR 3-1750 § 551 Nr 3) vertretenen Rechtsauffassung festhält, wonach ein Urteil - auch ohne Vorliegen weiterer Umstände - iS von § 551 Nr 7 ZPO iVm § 202 SGG als nicht mit Gründen versehen zu behandeln ist, wenn zwischen Verkündung und Zustellung "fast" ein Jahr (dort: fünf Tage weniger als ein Jahr) liegt.

2. Der Senatsbeschluß wurde mit Beschluß vom 25.8.1993 aufgehoben, weil sich die darin enthaltene Anfrage beim 1. Senat des BSG durch den Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27.4.1993 - GmS-OGB 1/92 erledigt hat.

 

Normenkette

SGG § 202; ZPO § 551 Nr 7

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Im Revisionsverfahren ist vorab die Frage zu klären, ob das Urteil des Landessozialgerichts (LSG), das erst zwei Tage vor Ablauf eines Jahres nach seiner Verkündung in vollständiger Form bei der Geschäftsstelle niedergelegt und am folgenden Tage den Beteiligten zugestellt worden ist, wegen Vorliegens eines absoluten Revisionsgrundes entsprechend § 551 Nr 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) aufzuheben ist.

Der im Jahr 1940 geborene Kläger wurde nach Auftreten von cerebralen Krampfanfällen, die während seiner Tätigkeit als selbständiger Taxiunternehmer zu einem Verkehrsunfall mit anschließendem Verlust der Fahrerlaubnis geführt hatten, auf Kosten der Beklagten von April 1982 bis September 1984 zum Feinmechaniker umgeschult. Danach war er - unterbrochen von einer etwa fünfmonatigen Beschäftigung als Feinmechaniker im Jahr 1986 und einer knapp dreimonatigen Hilfsarbeitertätigkeit in einem Verbrauchermarkt - überwiegend arbeitslos.

Im Oktober 1987 stellte der Kläger einen Antrag auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Die gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 1988 gerichtete Klage wies das Sozialgericht (SG) Kiel durch Urteil vom 15. Februar 1989 ab. Das Gericht sah es nach medizinischer Begutachtung durch einen Arzt für Orthopädie und einen Arzt für Neurologie und Psychiatrie sowie nach Vernehmung eines berufskundigen Sachverständigen als erwiesen an, daß der Kläger trotz eines sein Leistungsvermögen einschränkenden cerebralen Anfallsleidens mit unregelmäßig wiederkehrenden Bewußtseinsstörungen eine nicht nur theoretische Möglichkeit habe, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seinem Umschulungsberuf entsprechende Montage-, Prüf- und Kontrollarbeiten im feinmechanischen Bereich zu verrichten.

Auf die Berufung des Klägers hat das LSG in der mündlichen Verhandlung vom 24. Oktober 1989 als medizinische Sachverständige den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. und den Arzt für Orthopädie Dr. G. sowie als arbeitsmarkt- und berufskundigen Sachverständigen Verwaltungsamtsrat M. vom Arbeitsamt H. vernommen. Die medizinischen Sachverständigen haben bei ihrer Vernehmung schriftlich vorbereitete, zu den Akten gereichte Stellungnahmen verlesen und auf Befragen mündlich ergänzt. Eine Zusammenfassung der Aussage des berufskundigen Sachverständigen ist nach dessen mündlicher Einvernahme gleichfalls verlesen und von den Beteiligten genehmigt worden. Sodann hat das LSG aufgrund eines in der Sitzung verkündeten Beweisbeschlusses ein weiteres nervenärztliches Gutachten durch Prof. Dr. C. von der Universitäts-Nervenklinik K. eingeholt und zu der mündlichen Verhandlung am 11. September 1990 auf Anregung des Klägers einen weiteren medizinischen Sachverständigen, den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. T., sowie als weiteren berufskundigen Sachverständigen Verwaltungsamtsrat K. geladen. Der Sachverständige Dr. T. hat im Termin eine aufgrund vorausgegangener Untersuchung gefertigte schriftliche Stellungnahme verlesen, die nach Ergänzung zu den Akten genommen worden ist; über die Vernehmung des Sachverständigen K. ist eine Niederschrift als Anlage zum Protokoll gefertigt worden.

Das LSG hat die Berufung des Klägers durch ein am Schluß der Sitzung vom 11. September 1990 verkündetes Urteil zurückgewiesen. Dieses ist am 9. September 1991 in vollständiger Abfassung der Geschäftsstelle übergeben worden. Ausfertigungen des Urteils sind den Beteiligten am 10. September 1991 zugestellt worden. Das LSG hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:

Die beim Kläger bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen auf orthopädischem Gebiet seien nach dem Ergebnis der Begutachtung durch die gerichtlich in erster und zweiter Instanz beauftragten Sachverständigen ohne nennenswerte Auswirkungen für sein Leistungsvermögen. Aber auch das Anfallsleiden, das von 1975 bis 1985 durch fünf Vorfälle mit großen generalisierten, von Bewußtlosigkeit begleiteten Krampfanfällen und danach durch psychomotorische, mit Bewußtseinseinschränkungen verbundene Anfälle von mehreren Minuten in Erscheinung getreten sei, hindere ihn nicht, leichte und mittelschwere Arbeiten, unter Ausschluß von Eigen- oder Fremdgefährdung, besonderem Zeitdruck, Nacht- oder Wechselschicht, Publikumsverkehr oder besonderer Verantwortung, vollschichtig zu verrichten. Die Feststellungen zum Anfallsleiden beruhten auf einer Zusammenschau der Beurteilung aller im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren mit der Begutachtung befaßten Nervenärzte, wobei den hiernach noch zweifelhaften Ursachen der beim Kläger vorliegenden Epilepsieform nicht hätte nachgegangen werden müssen, da es im Rahmen des Rentenrechtsstreits auf die Ursachen einer Erkrankung nicht ankomme. Hinsichtlich der Auswirkungen des cerebralen Anfallsleidens folge der Senat der Einschätzung dreier der im Verwaltungsverfahren, sozial- und landessozialgerichtlichen Verfahren eingeschalteten Sachverständigen, wohingegen er sich den vom Sachverständigen Dr. K. geäußerten Zweifeln an der beruflichen Einsetzbarkeit des Klägers nicht anzuschließen vermöge. Der Sachverständige übersehe, daß das Unfallrisiko des Klägers - wie der Sachverständige Dr. T. verdeutlicht habe - nicht größer sei als im täglichen Leben. Im Beruf des Feinmechanikers gebe es für den Kläger eine Vielzahl von Ausübungsformen, die auch seinem eingeschränkten Leistungsvermögen entsprächen; insoweit beziehe sich der Senat auf die Aussage des berufskundigen Sachverständigen K., der aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Arbeitsberater für Schwerbehinderte beim Arbeitsamt K. über einschlägige Sach- und Fachkenntnisse verfüge und dessen Aussage man daher größere Bedeutung beigemessen habe als der teilweise abweichenden Aussage des Sachverständigen M.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 551 Nr 7 ZPO iVm § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Dem Fehlen von Gründen im Sinne dieser Vorschrift würden nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch die verspätete Absetzung und Zustellung eines Urteils gleichgestellt, weil dann nicht mehr gewährleistet sei, daß die schriftliche Begründung mit hinreichender Sicherheit das Beratungsergebnis wiedergebe. Die angefochtene Entscheidung sei nicht mit Gründen versehen, da zwischen Verkündung und Zustellung des Urteils ein Zeitraum von etwa einem Jahr gelegen habe. Dazu verweist der Kläger auf das Urteil des erkennenden Senats vom vom 6. März 1991 - 13/5 RJ 67/90 - sowie die Urteile des 12. Senats vom 19. März 1992 - 12 RK 2/92 - und des 1. Senats vom 13. Mai 1992 - 1 RK 29/91 -. Ferner beruft er sich auf den Vorlagebeschluß des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23. April 1992 - GS 1.91 -, mit welchem dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes die Frage vorgelegt wird, ob ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil im Sinne des § 138 Nr 6 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht mit Gründen versehen ist, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom

11. September 1990 - L 1 J 74/89 - aufzuheben und die Sache

zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht

zurückzuverweisen.

Die Beklagte schließt sich dem Antrag sowie der Begründung des Klägers im Revisionsverfahren an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Der Senat beabsichtigt, eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Daran sieht er sich durch die Rechtsauffassung des 1. Senats des BSG gehindert, die zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache wegen Vorliegens eines absoluten Revisionsgrundes nach § 551 Nr 7 ZPO führen würde.

Nach Auffassung des erkennenden Senats können die Voraussetzungen des § 551 Nr 7 ZPO im vorliegenden Fall weder im Wege einer erweiternden Auslegung noch im Wege einer richterlichen Gesetzesergänzung als gegeben erachtet werden. Nach dem Wortlaut dieser gemäß § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbaren Vorschrift ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, wenn sie nicht mit Gründen versehen ist. Diese Regelung kann zwar dahin ausgelegt werden, daß dem Fehlen von Gründen auch das Vorhandensein solcher Gründe gleichsteht, die wegen schwerer inhaltlicher Mängel (zB Unverständlichkeit) für eine revisionsgerichtliche Überprüfung untauglich sind. Eine bloße Verzögerung der Urteilsabsetzung läßt jedoch nicht ohne weiteres auf eine derartige Untauglichkeit schließen, weil es von den Umständen des Einzelfalles abhängt, ob der Richter wegen des Zeitablaufes seit der Urteilsberatung und -verkündung nicht mehr in der Lage war, das Beratungsergebnis in den schriftlichen Entscheidungsgründen zuverlässig wiederzugeben. Der erkennende Senat hält es allerdings für möglich, daß bei Hinzutreten weiterer gravierender Umstände die Beurkundungsfunktion des Urteils in einem Maße beeinträchtigt sein kann, daß dies dem Fehlen von Gründen gleichkommt. Eine derartige Fallkonstellation liegt hier jedoch nicht vor. Jedenfalls reicht es insoweit nicht aus, daß die Vorinstanz eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht leichte Sache zu entscheiden und insbesondere umfangreiche - zum Teil noch in der letzten mündlichen Verhandlung erhobene - Beweise zu würdigen hatte. Denn weder läßt sich aus den Urteilsgründen entnehmen, daß das LSG mit diesen Schwierigkeiten nicht fertig geworden ist, noch hat der Kläger mit seiner Rüge Tatsachen vorgetragen, die den Schluß zulassen könnten, daß die Beurkundungsfunktion des angefochtenen Urteils nicht mehr gewährleistet wäre.

Was die Einführung einer zeitlichen Grenze angeht, von der ab ein verspätet abgesetztes Urteil ohne Vorliegen weiterer Umstände als nicht mit Gründen versehen zu behandeln wäre, hat der Senat bereits grundsätzliche Bedenken gegen eine derartige richterliche Rechtsfortbildung. Jedenfalls ist eine Übernahme der Fünfmonatsfrist zwischen Verkündung und Zustellung des Urteils, wie sie der Bundesgerichtshof (BGH) für den Zivilprozeß mit guten Gründen aus § 552 ZPO hergeleitet hat, im sozialgerichtlichen Verfahren nicht gerechtfertigt, weil es hier keine dem § 552 ZPO entsprechenden gesetzessystematischen Anknüpfungspunkte gibt. Allenfalls wäre eine Beibehaltung der vom BSG eingeführten Einjahresfrist aus Gründen der Rechtsschutzgewährleistung und Rechtssicherheit hinzunehmen. Der vorliegende Fall nötigt nicht zu der Entscheidung, ob an dieser Rechtsprechung - wie es der erkennende Senat bisher getan hat - weiterhin festzuhalten ist. Denn das angefochtene Urteil ist noch binnen eines Jahres nach seiner Verkündung in vollständiger Abfassung der Geschäftsstelle übergeben und den Beteiligten zugestellt worden. Im Hinblick darauf, daß die Zustellung an den Kläger nur einen Tag vor Ablauf der Jahresfrist erfolgt ist, kommt es jedoch darauf an, ob dies bereits für die Annahme eines absoluten Revisionsgrundes ausreicht. Der erkennende Senat möchte diese Frage verneinen. Sofern man die Jahresfrist überhaupt für rechtlich abgesichert hält, kommt aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit nur eine solche in Betracht, die kalendermäßig ein volles Jahr umfaßt, nicht hingegen eine Frist, die mit unbestimmten Merkmalen wie "fast" oder "etwa" umschrieben wird.

Der erkennende Senat sieht sich durch das Urteil des 1. Senats des BSG vom 13. Mai 1992 - 1 RK 29/91 - gehindert, in dem dargestellten Sinne zu entscheiden. In dem genannten Urteil hat der 1. Senat nämlich ausgeführt (Seite 3 f des Umdruckes):

"Im vorliegenden Verfahren lagen zwischen der Verkündung des Urteils

am 25. September 1990 und seiner Zustellung an die Beteiligten am

20. September 1991 etwa 12 Monate. Auch in diesem Fall, in dem die

Jahresfrist um fünf Tage unterschritten wird, sind die Gründe nicht

mehr hinzunehmen, und zwar auch dann nicht, wenn - wie im vorliegenden

Fall - keine Beweiswürdigung erforderlich war (vgl BSGE 51, 122, 124 =

SozR 1750 § 551 Nr 9 zu einem Fall, in dem die Jahresfrist bei einem

der Beteiligten um einen Tag unterschritten war). Ein solcher

Verfahrensmangel ist bei einer zulässigen Revision von Amts wegen zu

beachten (BSGE 51, 122, 125 = SozR 1750 § 551 Nr 9; BSGE 53, 186, 188

= SozR aaO Nr 10; SozR aaO Nr 12) und führt zur Aufhebung des

angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung. ...."

"Ob bei kürzeren Verzögerungszeiten im Einzelfall geprüft werden muß,

inwieweit besondere Umstände dafür sprechen, daß die

Entscheidungsgründe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und

Beratung nicht mehr zuverlässig wiedergeben (vgl BSGE 33, 161; BSG USK

7353; BSG SozSich 1984, 27f), kann hier offenbleiben. Der Senat neigt

jedenfalls zu der Annahme, daß bei schon wesentlich kürzeren

Verzögerungszeiten - ohne entsprechende Einschränkungen - ein Verstoß

gegen § 551 Nr 7 ZPO vorliegt. ..."

Hieraus läßt sich entnehmen, daß der 1. Senat des BSG ein Unterschreiten der Jahresfrist zwischen Verkündung und Zustellung um wenige Tage insbesondere deshalb für unbeachtlich hält, weil er dazu tendiert, einen absoluten Revisionsgrund iS von § 551 Nr 7 ZPO bereits bei deutlich geringeren Verzögerungen der Urteilsabsetzung anzunehmen. Da der erkennende Senat dem nicht zu folgen vermag, hat er gemäß § 41 Abs 3 SGG beim 1. Senat anzufragen, ob dieser an seiner Rechtsprechung festhält.

Seine eigene Beurteilung der streitigen Rechtsfrage stützt der erkennende Senat auf folgende Erwägungen:

Der Wortlaut des § 551 Nr 7 ZPO gibt keine Antwort auf die Frage, ob und ggf in welcher Weise diese Norm die Fälle einer verzögerten Urteilsabsetzung erfassen soll. Dieser Frage ist daher zunächst mit den Methoden der Auslegung nachzugehen, bevor die Möglichkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung erwogen wird.

Bei der Auslegung des § 551 Nr 7 ZPO sind vornehmlich die für die Absetzung eines Urteils maßgebenden Normen zu berücksichtigen. § 136 Abs 1 SGG legt den notwendigen Inhalt eines schriftlichen Urteils fest. Dazu gehören nach Ziff 6 dieser Vorschrift auch die Entscheidungsgründe. Nach § 128 Abs 1 Satz 2 SGG sind in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das Urteil nebst Tatbestand und Entscheidungsgründen ist vom Vorsitzenden (im Berufungs- und Revisionsverfahren auch von den anderen Mitgliedern des Senats, vgl § 153 Abs 2, § 165 SGG) zu unterschreiben (§ 134 Satz 1 SGG). Nach § 134 Satz 2 SGG soll ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht vollständig schriftlich niedergelegt war, binnen drei Tagen nach der Verkündung in vollständiger Abfassung der Geschäftsstelle übergeben werden. Binnen zwei Wochen nach der Verkündung soll die Zustellung an die Beteiligten erfolgen (vgl § 135 SGG).

Dieser Regelungszusammenhang läßt drei gesetzgeberische Zielsetzungen erkennen: Dem schriftlichen Urteil kommt in bezug auf das Beratungsergebnis eine Beurkundungsfunktion zu (§ 128 Abs 1 Satz 2 SGG). Dies ist bedeutsam, weil die nächsthöhere Instanz das Urteil nur anhand der schriftlichen Urteilsfassung überprüfen kann. Damit hängt die Rechtsschutzfunktion zusammen. Ein zeitnah abgesetztes und zugestelltes Urteil (vgl § 134 Satz 2, § 135 SGG) erleichtert es den Beteiligten, etwaige Verfahrensfehler (zB Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch fehlende Auseinandersetzung mit nichtprotokolliertem mündlichen Vorbringen) zu rügen und die entsprechenden Tatsachen nachzuweisen. Eng mit der Rechtsschutzfunktion verbunden ist die Beschleunigungsfunktion, die das gesamte sozialgerichtliche Verfahren bestimmt; denn wirksamer Rechtsschutz bedeutet immer auch Rechtsschutz in angemessener Zeit (vgl BVerfGE 55, 349, 369). Diese die Urteilsabsetzung bestimmenden Funktionen können als Maßstab für die Beantwortung der Frage dienen, ob und ggf unter welchen Voraussetzungen § 551 Nr 7 ZPO dann entsprechend anwendbar ist, wenn ein verkündetes Urteil mit erheblicher Verzögerung abgesetzt und den Beteiligten zugestellt worden ist.

Der absolute Revisionsgrund des § 551 Nr 7 ZPO trägt dem Umstand Rechnung, daß Gegenstand der revisionsgerichtlichen Überprüfung nur das schriftlich abgefaßte Urteil der Vorinstanz sein kann. Mithin kommt der Beurkundungsfunktion der Entscheidungsgründe eine besondere Bedeutung zu. § 551 Nr 7 ZPO ist daher insofern auslegungsfähig, als dem vollständigen Fehlen von Gründen ein Vorhandensein solcher Gründe gleichgestellt werden kann, die für eine revisionsgerichtliche Überprüfung untauglich sind (vgl BAG AP Nr 9 zu § 551 ZPO mit Anm Schumann).

Eine derartige Untauglichkeit ist nach Auffassung des erkennenden Senats nicht nur dann gegeben, wenn die Urteilsgründe wegen deutlicher Unklarheiten oder Widersprüche inhaltlich nicht überprüfbar sind, sondern ist auch dann anzunehmen, wenn gewichtige Umstände dafür sprechen, daß die Beurkundungsfunktion des Urteils nicht mehr gewährleistet ist. Es kann dem Revisionsgericht nicht angesonnen werden, Gründe zu überprüfen, bei denen ernsthafte Zweifel bestehen, ob es diejenigen sind, die zu der Entscheidung geführt haben. In diesem Zusammenhang können auch Verzögerungen bei der Urteilsabsetzung mit ins Gewicht fallen (vgl auch BVerwGE 49, 61, 63 ff; 50, 278, 280 ff; 60, 14, 15 ff; BVerwG Buchholz 310 § 133 Nrn 73, 86). Denn es ist nicht zu verkennen, daß das Erinnerungsvermögen der am Urteil beteiligten Richter erfahrungsgemäß mit der Zeit nachläßt und dies die Gefahr in sich birgt, daß die schriftlichen Entscheidungsgründe nicht mehr mit dem Beratungsergebnis übereinstimmen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß eine derartige Beeinträchtigung der Beurkundungsfunktion nicht notwendigerweise und immer durch bloßen Zeitablauf eintritt. Abgesehen von dem unterschiedlichen individuellen Erinnerungsvermögen der Menschen sind dafür nicht nur der Inhalt der richterlichen Entscheidung (Schwierigkeitsgrad der Sach- und Rechtslage, Erforderlichkeit von Beweiswürdigungen und ähnliche Umstände), sondern auch das Vorhandensein von "Gedächtnisstützen" (Akteninhalt, Protokolle, Voten, Notizen) ausschlaggebend (vgl zB BAGE 33, 208, 212; 35, 251, 258). Nicht zuletzt bestehen in dieser Hinsicht auch Unterschiede zwischen den Gerichtsinstanzen. Im Hinblick auf diese Gegebenheiten ist regelmäßig zu fordern, daß die Urteilsgründe inhaltliche Mängel aufweisen, die auf Erinnerungslücken der beteiligten Richter schließen lassen. Folglich reicht der Umstand, daß schwierige Rechtsfragen zu erörtern oder eine - auch in der letzten mündlichen Verhandlung durchgeführte - umfangreiche Beweisaufnahme zu würdigen war, für sich allein nicht aus, um die Tauglichkeit der Entscheidungsgründe in Zweifel zu ziehen. Denn einem Richter kann es bei entsprechender Dokumentation auch nach längerer Zeit durchaus noch möglich sein, das Beratungsergebnis zuverlässig wiederzugeben.

Nach Auffassung des erkennenden Senats läßt sich § 551 Nr 7 ZPO hingegen nicht dahin auslegen, daß allein schon ein bestimmter zeitlicher Abstand zwischen Verkündung und Abfassung oder Zustellung des Urteils für die Annahme eines absoluten Revisionsgrundes ausreicht. Weder aus dem Inhalt dieser Bestimmung noch aus anderen gesetzlichen Regelungen kann ein derartiger Schluß gezogen werden.

§ 551 Nr 7 ZPO selbst enthält keine verwertbaren Anhaltspunkte. Auch die dreitägige Urteilsabsetzungsfrist des § 134 Satz 2 SGG oder die Zustellungsfrist von zwei Wochen in § 135 SGG liefern keine geeigneten Maßstäbe für die Aufstellung einer zeitlichen Grenze, von der ab ein verspätet abgefaßtes und zugestelltes Urteil als nicht mit Gründen versehen zu behandeln wäre. Abgesehen davon, daß diese Fristen in den meisten Fällen praktisch nicht eingehalten werden können, handelt es sich dabei um bloße Ordnungsvorschriften, deren Übertretung grundsätzlich keinen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt (vgl Peters/Sauter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 134 SGG RdNr 22, § 135 RdNr 11).

Die Rechtsprechung des BGH zu § 551 Nr 7 ZPO kann hier nicht übernommen werden. Der BGH hat die Auffassung vertreten, daß jedenfalls dann ein Revisionsgrund nach § 551 Nr 7 ZPO gegeben sei, wenn die Urteilsgründe des Berufungsgerichts fünf Monate nach der Verkündung des Urteils noch nicht vorliegen. Die Parteien dürften nicht in die Zwangslage versetzt werden, mit Rücksicht auf den spätestens fünf Monate nach Verkündung des Urteils einsetzenden Lauf der Rechtsmittelfrist (§ 552 ZPO) ein Rechtsmittel einlegen zu müssen, ohne die Urteilsgründe zu kennen. Werde eine Partei durch eine ungebührliche Verzögerung bei der Abfassung der Urteilsgründe in eine solche Lage versetzt, dann sei das eine so starke Beeinträchtigung ihrer Rechte, daß ein solcher Verstoß eine Aufhebung des Urteils nach § 551 Nr 7 ZPO rechtfertige (vgl BGHZ 7, 155 f; 32, 17, 24 f; BGH NJW 1986, 2958 f; 1991, 1547). Dieses aus der Zusammenschau mit dem Lauf der Frist für die Revisionseinlegung im Zivilprozeß gewonnene Auslegungsergebnis kann schon deshalb im sozialgerichtlichen Verfahren keine Geltung beanspruchen, weil hier die Fristen für die Einlegung einer Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde nicht vor der Zustellung des Urteils zu laufen beginnen (vgl § 160a Abs 1 Satz 2, Abs 4 Satz 5, § 161 Abs 3 Satz 2, § 164 Abs 1 SGG; vgl dazu BSG SozR Nr 11 zu § 551 ZPO; BSGE 51, 122, 123). Auch der BGH selbst hat eine Übertragung seiner zivilprozessualen Rechtsprechung zu § 551 Nr 7 ZPO auf andere Verfahrensarten wegen der dort geltenden abweichenden Regelungen über die Revisionsfristen abgelehnt (vgl BGHSt 21, 4, 8; BGH NJW 1970, 611). Entsprechendes gilt, soweit der BGH einen - relativen - Revisionsgrund in Fällen für möglich gehalten hat, in denen einer Partei wegen der Zustellung des Urteils nach Ablauf der Dreimonatsfrist des § 320 Abs 2 Satz 3 ZPO die Möglichkeit genommen wurde, eine Berichtigung des Tatbestandes zu beantragen (vgl BGHZ 32, 17, 25 ff; ebenso BAGE 4, 81, 83). Denn im sozialgerichtlichen Verfahren kann die Berichtigung des Tatbestandes binnen zwei Wochen nach Zustellung des Urteils beantragt werden (vgl BSGE 51, 122, 123).

Ebensowenig läßt sich eine verläßliche Grenze feststellen, von der ab bei verzögerter Absetzung des Urteils dessen Beurkundungsfunktion wegen des Auftretens von Erinnerungslücken der beteiligten Richter nicht mehr gewährleistet wäre.

Soweit der BGH in einer neueren Entscheidung (Urteil vom 29. Oktober 1986, NJW 1987, 2446, 2447) - unter Berufung auf Literaturstimmen, aber ohne eigene nähere Begründung - in den fünf Monaten des § 552 ZPO eine vom Gesetzgeber aus Gründen der Rechtssicherheit festgelegte Grenze dafür sieht, wie lange äußerstenfalls das Erinnerungsvermögen der am Urteil beteiligten Richter reicht (ebenso BVerwGE 85, 273, 278; BVerwG NJW 1991, 313), vermag der erkennende Senat dieser Erwägung nicht zu folgen. Zum einen setzt sich der BGH damit in Gegensatz zu überzeugender Rechtsprechung desselben Gerichts, wonach wegen des sehr unterschiedlichen Erinnerungsvermögens der Menschen aus der Tatsache eines so langen Zeitablaufs unmöglich generell geschlossen werden kann, daß sich die schriftliche Begründung nicht mit den beratenden Gründen deckt (vgl BGHZ 32, 17, 26; ähnlich auch BGHSt 21, 4, 8; BGH NJW 1970, 611). Zum anderen läßt sich den Gesetzesmaterialien zu § 552 ZPO (idF des Art II Nr 83 der Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 13. Februar 1924, RGBl I S 135) - wie auch der Große Senat des BVerwG in seinem Vorlagebeschluß vom 23. April 1992 (GS 1.91) an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes einräumt (Umdruck S 11) - keine entsprechende Motivation des Normgebers entnehmen. Vielmehr sollte die mit der Urteilsverkündung beginnende Fünfmonatsfrist lediglich verhindern, daß die Parteien durch Unterlassen der Zustellung die Entscheidung darüber, ob das Urteil angefochten werden soll oder nicht, beliebig lange hinausziehen (vgl Volkmar, JW 1924, 345, 349; dazu auch Stein/Jonas, 14. Aufl 1929, § 516 ZPO Anm I).

Das Gesetz läßt an keiner Stelle erkennen, daß allein die abstrakte Gefahr von Mängeln der schriftlichen Urteilsgründe, die sich aus richterlichen Erinnerungsschwierigkeiten ergeben können, zu der scharfen Folge eines von Amts wegen zu beachtenden absoluten Revisionsgrundes führen soll. Dafür gäbe es von der Sache her auch keine generell verwertbare Rechtfertigung, da eine Beeinträchtigung der Beurkundungsfunktion des Urteils gerade von den konkreten Umständen des Einzelfalles abhängt. Diese Gegebenheiten lassen es nicht zu, im Wege der Auslegung des § 551 Nr 7 ZPO bei verspätet abgefaßten und zugestellten Urteilen zu einer bestimmten zeitlichen Grenzziehung zu gelangen.

Eine andere Beurteilung ist für den Bereich des SGG auch nicht unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Großen Senats des BVerwG geboten, der in seinem Beschluß vom 23. April 1992 für die Übernahme der Fünfmonatsfrist im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eintritt. Er knüpft dort an das zeitbezogene Merkmal "alsbald" in der zwingenden Regelung des § 117 Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO an und greift zur Begründung einer Fünfmonatsfrist auf § 552 ZPO zurück, dem er einen die Beurkundungsfunktion des Urteils sichernden Zweck beimißt. Es erscheint zweifelhaft, ob der erkennende Senat dieser Argumentation folgen könnte, da sich § 117 Abs 4 VwGO seiner Funktion nach deutlich von § 552 ZPO unterscheidet und eine dieser letztgenannten Vorschrift entsprechende Bestimmung in der VwGO nicht enthalten ist. Diese Frage kann jedoch hier dahinstehen; denn jedenfalls bietet das SGG keinen vergleichbaren Ansatzpunkt für eine diesbezügliche Auslegung, da § 134 Satz 2 SGG lediglich als eine "Sollvorschrift" ausgestaltet ist.

Entsprechendes gilt, soweit die Rechtsschutz- und Beschleunigungsfunktion einer zeitnahen Urteilsabsetzung in Betracht gezogen wird. Zwar können erhebliche Verzögerungen bei der Zustellung eines verkündeten Urteils die Rechtsschutzmöglichkeit der Beteiligten verschlechtern. Insbesondere kann ihnen die Geltendmachung von Verfahrensfehlern und der Nachweis der damit zusammenhängenden Tatsachen erschwert werden. Dies trifft jedoch nicht in jedem Fall zu und ist von dem Vorliegen besonderer Umstände abhängig. Auch aus der Beschleunigungsfunktion lassen sich keine eindeutigen Folgerungen ziehen. Bei einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Revisionsgrund würde durch die zwingende Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz für die betroffenen Beteiligten oft eine weitere - möglicherweise unnötige und von ihnen nicht gewollte - sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung bewirkt.

Der erkennende Senat hat schließlich auch grundsätzliche Bedenken dagegen, § 551 Nr 7 ZPO im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung dahin zu erweitern, daß er eine Aufhebung aller sozialgerichtlichen Urteile ermöglicht, die erst nach Ablauf einer bestimmten Frist seit ihrer Verkündung in vollständiger Fassung zur Geschäftsstelle gelangt und den Beteiligten zugestellt worden sind.

Es bestehen insofern bereits Zweifel, ob in § 551 Nr 7 ZPO eine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Immerhin hat der Gesetzgeber die Parallelvorschrift des § 338 Nr 7 der Strafprozeßordnung (StPO) im Jahre 1977 um den Fall der Fristüberschreitung bei der Abfassung der Entscheidungsgründe ergänzt, ohne sich der entsprechenden Problematik im Rahmen des § 551 Nr 7 ZPO oder des § 138 Nr 6 VwGO anzunehmen (vgl dazu BAGE 33, 208, 210 f; 35, 251, 256). Auch sonst erscheint ein zwingender Regelungsbedarf fraglich. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß die Beteiligten neben § 551 Nr 7 ZPO noch andere Möglichkeiten haben, ein Urteil zu Fall zu bringen.

Enthält das Urteil überraschende tatsächliche bzw rechtliche Würdigungen oder wird darin wesentliches Vorbringen der Beteiligten übergangen, kann regelmäßig eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (vgl § 62 SGG, Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG)) mit Erfolg gerügt werden. Bei völlig unangemessenen Verzögerungen des Verfahrens - und damit auch der Zustellung eines bereits verkündeten Urteils - kommt darüber hinaus auch eine unmittelbar auf die Rechtsschutzgarantie gemäß Art 19 Abs 4 GG (oder als Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips nach Art 20 Abs 3 GG) gestützte Verfahrensrüge in Betracht. Da das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in solchen Fällen einen Verfassungsverstoß für möglich hält (vgl BVerfGE 55, 349, 369), liegt es jedenfalls nahe, darin auch einen wesentlichen Verfahrensmangel zu sehen. Dies hätte für die Beteiligten nicht zuletzt den Vorteil einer größeren Flexibilität, da ein derartiger Mangel nur auf eine entsprechende substantiierte Rüge hin zu berücksichtigen wäre. Bereits dieser Überblick zeigt, daß die Beteiligten nicht notwendigerweise schutzlos gestellt würden, wenn man eine Erstreckung des § 551 Nr 7 ZPO auf die Fälle der verzögerten Urteilsabsetzung ablehnt.

Auch ein verständliches Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in dieser Frage ist schwerlich geeignet, im sozialgerichtlichen Verfahren einen absoluten Revisionsgrund bei Überschreiten einer bestimmten Urteilsabsetzungsfrist im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung einzuführen. Vielmehr sollte ein derartiger Schritt dem Gesetzgeber überlassen bleiben. Denn eine absolute Zeitgrenze ist nicht nur mit Vorteilen, sondern auch mit Nachteilen verbunden, die gegeneinander abzuwägen die Kompetenz des Richters überschreiten dürfte. Auf der einen Seite wird durch eine solche Maßnahme der Beurkundungsfunktion des Urteils sicher gedient, auch werden Rechtsschutzerschwernisse für die Beteiligten teilweise verhindert. Auf der anderen Seite schafft ein von Amts wegen zu berücksichtigender Revisionsgrund Unzuträglichkeiten, indem er auch Fälle erfaßt, in denen die notwendige Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache nicht im Interesse der Beteiligten liegt. Denn soweit nur über Rechtsfragen zu entscheiden war, wird die Vorinstanz seine erste Entscheidung häufig inhaltsgleich wiederholen. Sind Beweisaufnahmen erneut durchzuführen, so können aufgrund des Zeitablaufs zusätzliche Schwierigkeiten (größere Erinnerungslücken, Wegfall von Beweismitteln) auftreten. Diese Gegebenheiten bedeuten regelmäßig eine weitere Verfahrensverzögerung und mitunter auch eine erhebliche Rechtsunsicherheit.

Besonders hervorzuheben ist, daß die Annahme eines absoluten, von Amts wegen zu beachtenden Revisionsgrundes über eine zusätzliche Verfahrensverzögerung hinaus noch weitere erhebliche Nachteile für die Beteiligten bewirkt oder bewirken kann. Dem unterlegenen Beteiligten wird auch dort, wo es durch sachliche Gründe des Verfahrensablaufs nicht gerechtfertigt ist, eine neue Chance eingeräumt, den Prozeß erfolgreich zu führen; der obsiegende Beteiligte verliert seine durch das Urteil zunächst gesicherte Rechtsstellung. In jedem Fall entstehen zusätzliche Kosten und Belastungen. Hieraus könnten Amtshaftungsansprüche erwachsen, die weitere Prozesse nach sich ziehen. Wer eine absolute Zeitgrenze für die Urteilsabsetzung auch damit zu rechtfertigen sucht, daß sie durch einen generalpräventiven Effekt insgesamt eine Beschleunigung der Verfahren bewirken könne, läßt unbeachtet, daß dies in vielen Fällen zu einer Disziplinierung der Richter auf Kosten der Beteiligten führen würde.

Darüber hinaus werden in Rechtsprechung (vgl zB BSGE 51, 122; BAGE 38, 55; BFHE 151, 328; BGHZ 7, 155; BVerwGE 50, 278; BVerwG, Beschluß vom 23. April 1992 -GS 1.91-) und Literatur (vgl zB Meyer-Ladewig, 4. Aufl, § 134 SGG RdNr 3 aE; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 134 SGG RdNr 23; Pohle AP Nr 1 zu § 60 ArbGG; Schneider, MDR 1988, 640, 642; Stein/Jonas/Grunsky, § 551 ZPO RdNr 32) so viele Vorschläge für die Dauer einer Frist erörtert, daß sich die Frage aufdrängt, ob hier nicht hinreichend konkrete tatsächliche und rechtliche Ansatzpunkte für eine auf allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen beruhende richterliche Gesetzesergänzung fehlen (vgl dazu allgemein BVerfGE 34, 269, 287; 65, 182, 195). Weder sind - wie oben schon im einzelnen dargelegt wurde - verläßliche Erkenntnisse über allgemeine Grenzen des richterlichen Erinnerungsvermögens ersichtlich, noch lassen sich in anderen Vorschriften enthaltene gesetzgeberische Wertungen nutzbar machen, soweit es die entsprechende Anwendung des § 551 Nr 7 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren betrifft. Die gegen eine Heranziehung der Fristen in § 320 Abs 2, § 552 ZPO sprechenden Gründe sind bereits oben dargelegt worden. Sie können nicht nur für die Frage einer erweiternden Auslegung, sondern auch für die einer Rechtsfortbildung Geltung beanspruchen. In ähnlicher Weise vermißt der erkennende Senat auch für die vom BSG entwickelte Jahresfrist (vgl BSGE 51, 122) eine ausreichende Grundlage. Allenfalls ließen sich § 66 Abs 2, § 67 Abs 3 SGG anführen, die im Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Rechtsschutzgarantie Jahresfristen aufstellen.

Letztlich braucht der Senat im vorliegenden Fall nicht abschließend zu entscheiden, ob er an seiner bisherigen Rechtsprechung (Senatsurteile vom 6. März 1991 - 13/5 RJ 62 und 67/90 -) zur Geltung einer Jahresfrist zwischen Urteilsverkündung und Zustellung festhält. Denn hier ist sowohl die Niederlegung des Urteils bei der Geschäftsstelle als auch die Zustellung an die Beteiligten innerhalb eines Jahres seit der Verkündung erfolgt. Dementsprechend scheidet auch eine Abweichung von Entscheidungen anderer Senate des BSG aus, die einen absoluten Revisionsgrund iS von § 551 Nr 7 ZPO in Fällen bejaht haben, bei denen zumindest die Zustellung des verkündeten Urteils an den revisionsführenden Beteiligten erst nach Ablauf einer Jahresfrist lag (vgl BSG, Urteil vom 31. Januar 1980 - 8a RU 16/79 - = SozR 1750 § 551 Nr 8; BSG, Urteil vom 22. Januar 1981 - 10/8b RAr 1/80 - = BSGE 51, 122; BSG, Urteil vom 22. Januar 1981 - 10/8b RAr 2/80 -; BSG, Urteil vom 20. März 1984 - 7 RAr 35/83 - = NZA 1984, 332; BSG, Urteil vom 19. Dezember 1991 - 12 RK 46/91 -; Urteil vom 19. März 1992 - 12 RK 2/92 -). Zwar hat der 12. Senat des BSG § 551 Nr 7 ZPO auch einmal angewandt, ohne daß die Jahresfrist vollständig abgelaufen war (BSG, Urteil vom 6. Mai 1992 - 12 RK 19/92 - = SozR 3-1750 § 551 Nr 2). Dies beruhte jedoch auf dem Vorliegen besonderer, für eine Beeinträchtigung der Beurkundungsfunktion sprechender Anhaltspunkte, die in dem hier zu entscheidenden Fall nicht gegeben sind. Lediglich der 1. Senat des BSG hat bisher einen absoluten Revisionsgrund ohne Vorliegen weiterer Umstände auch dann angenommen, wenn zwischen Verkündung und Zustellung des Urteils "fast" ein Jahr liegt (Urteil vom 13. Mai 1992 - 1 RK 29/91 - = BSG SozR 3-1750 § 551 Nr 3). Der dieser Entscheidung zugrundeliegenden Rechtsauffassung vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen.

Die ihr beigelegte Funktion, für die Aufhebbarkeit verspätet abgesetzter Urteile eine eindeutige und praktikable Regelung zu schaffen, kann die Jahresfrist nur dann erfüllen, wenn auf ihren genauen Ablauf abgestellt wird. Dem Wesen einer gegriffenen Größe ist eine gewisse Pauschalierung eigen, die - auch unter Inkaufnahme von Härten im Einzelfall - nur bei einer schematischen Anwendung erreicht werden kann. Demgegenüber erscheint die vom 1. Senat des BSG gefundene Lösung auch mit dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit (vgl dazu BAG, Urteile vom 27. März 1984 - 1 AZR 603/82 - und vom 31. August 1988 - 7 AZR 564/87 -; BGH NJW 1987, 2446, 2447; 1991, 1547) unvereinbar, zumal eine "Aufweichung" der Jahresfrist die Abgrenzungsproblematik nur auf die Frage verlagert, ab wann nicht mehr von einer unbeachtlichen Unterschreitung der Frist um nur wenige Tage gesprochen werden kann.

Im übrigen neigt der Senat - ohne daß es hier darauf ankäme - dazu, bei der Berechnung einer derartigen Frist auf den Zeitablauf zwischen Verkündung des Urteils und seiner Niederlegung bei der Geschäftsstelle abzustellen. Dadurch würde nicht nur der Beurkundungsfunktion des Urteils besser genüge getan, sondern auch vermieden, daß einem Beteiligten aus Verzögerungen bei der Zustellung des Urteils an ihn ein Revisionsgrund erwachsen kann. Den Rechtsschutzinteressen der Beteiligten ist damit gleichwohl hinreichend Rechnung getragen, zumal der Inhalt des Urteils für sie mit dem Eingang der Urschrift bei der Geschäftsstelle grundsätzlich verfügbar wird (vgl dazu BGHZ 32, 17, 25) und sie auf eine zügige Herstellung von Ausfertigungen notfalls über die Dienstaufsicht des Gerichtsleiters hinwirken können.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662662

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