Der sog. rollierende Stichtag und freiwillige Beiträge

Im Mai 2014 einigte sich die Politik, die letzten Streitpunkte im Zusammenhang mit dem Rentenpaket auszuräumen. Vereinbart wurden ein "rollierender Stichtag" und die Anrechnung freiwilliger Beiträge bei der Rente mit 63. Überzeugt der politische Kompromiss aus fachlicher Sicht?

Rollierender Stichtag mit Arbeitnehmerschutzklausel

Die Bundesregierung hatte schon beim Kabinettsbeschluss des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes vereinbart, im parlamentarischen Verfahren zu prüfen, wie eine mögliche Frühverrentung bei der abschlagsfreien Rente mit 63 Jahren verhindert werden kann. Gefunden wurde folgende Lösung: Zeiten des Bezugs von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung, insbesondere des Arbeitslosengeldbezugs, werden in den letzten 2 Jahren vor dem Beginn der abschlagsfreien Rente ab 63 grundsätzlich nicht mehr angerechnet. Eine Ausnahme gilt allerdings für Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs, die durch eine Insolvenz oder eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers verursacht wurden.

Einplanen von 2 Jahren Arbeitslosigkeit verhindern

Es ist zunächst festzustellen, dass diese Regelung wirksam verhindert, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor dem Rentenbeginn ab dem Alter 61 noch 2 Jahre Arbeitslosigkeit mit "einplanen". Gleichzeitig wird erreicht, dass – anders als etwa bei einem festen Stichtag (z. B. Berücksichtigung von Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs nur bis zum 30.6.2014) – Arbeitslosigkeitszeiten (mit Ausnahme der letzten 2 Jahre) dauerhaft berücksichtigt werden.

Was ist rechtlich und sozialpolitisch gerechtfertigt?

Gleichwohl ist auch diese Regelung eines rollierenden Stichtags nicht "frei von Nebenwirkungen". Sie dürfte insofern verfassungsrechtlich problematisch sein, da lediglich für die Fälle der Insolvenz und vollständigen Geschäftsaufgabe eine Ausnahme gemacht wird. Dies sind ohne Zweifel Fallgestaltungen, in denen keine missbräuchlichen Frühverrentungen vorliegen. Es gibt aber auch noch andere Fälle einer unverschuldeten Arbeitslosigkeit, wie etwa eine betriebs- oder krankheitsbedingte Kündigung des Arbeitnehmers. Ist es rechtlich und sozialpolitisch gerechtfertigt, in diesen Fällen keine Ausnahme von der grundsätzlichen Nichtanrechnung zu machen? Wohl kaum, denn hier liegt ebenfalls kein Fehlverhalten von Arbeitgeber oder Arbeitnehmer vor.

Schließlich ist auch zu kritisieren, dass die Prüfung der Ausnahmefälle Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe sehr verwaltungsaufwendig ist. Der Rentenversicherungsträger muss dazu ggf. bei der Einzugsstelle (Krankenkasse) nachfragen oder Einblick in das Handelsregister nehmen. Dies ist kein Beitrag zur Rechtsvereinfachung bzw. zum Bürokratieabbau.

Berücksichtigung von freiwilligen Beiträgen bei der Wartezeit von 45 Jahren

Ebenfalls neu ist, dass Zeiten der freiwilligen Beitragszahlung auf die Wartezeit von 45 Jahren angerechnet werden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit von insgesamt 18 Jahren vorhanden sind (entweder zusammenhängend oder in verschiedenen Zeiträumen). Da auf die Wartezeit von 45 Jahren Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II und Arbeitslosenhilfe nicht angerechnet werden, zählen diese Zeiten auch bei der 18-jährigen Pflichtbeitragszeit nicht. Zur Vermeidung von Frühverrentung werden auch hier in den letzten 2 Jahren vor Rentenbeginn liegende freiwillige Beiträge, die gleichzeitig neben einer Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit gezahlt werden, nicht berücksichtigt.

Pflichtbeiträge von freiwilligen Beiträgen unterscheiden

Auch dies kann kritisch hinterfragt werden. Denn die Altersrente für besonders langjährig Versicherte soll als rentenrechtliche Sonderregelung von ihrer Zielsetzung her gerade diejenigen Menschen privilegieren, die aufgrund eines sehr langen Erwerbslebens und der damit verbundenen kontinuierlichen Beitragszahlung zur gesetzlichen Rentenversicherung einen wesentlichen Beitrag zu deren Stabilisierung erbracht haben. Mit Rücksicht auf die langfristige Aufrechterhaltung und Funktionsfähigkeit des Rentensystems macht es eben einen erheblichen Unterschied, ob

  • jemand als Pflichtversicherter regelmäßig entsprechend seinem Erwerbseinkommen die Aufwendungen der Rentenversicherung mitträgt oder
  • er die Möglichkeit hat, Zahl und Höhe seiner Beiträge und damit auch seinen Anteil an den Aufwendungen der Solidargemeinschaft selbst zu bestimmen, also ggf. auch seine Beitragszahlung ganz einzustellen.

Wenn nunmehr lediglich verlangt wird, dass von 45 Jahren 18 Jahre einkommensgerecht Beiträge gezahlt werden und im Übrigen 27 Jahre freiwillige Beiträge in Höhe des Mindestbeitrags (derzeit monatlich rund 85 EUR; im Vergleich Höchstbeitrag monatlich rund 1.124 EUR) ausreichen, dann erscheint dies ungerecht gegenüber denjenigen, die 45 Jahre lang stets einkommensabhängige Pflichtbeiträge geleistet haben. Schließlich wird hier über lebenslange Rentenabschläge in erheblicher Höhe entschieden. Zudem stellt sich die Frage, ob die Vergünstigung gerade denjenigen zukommen sollte, die sich bewusst entschieden haben, nicht mehr als Pflichtbeitragszahler der Solidargemeinschaft der Rentenversicherung anzugehören. Auch Selbstständige werden ja nicht gezwungen, sich nach 18 Jahren von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung befreien zu lassen.