Das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung ist verfassungskonform

Das BVerfG hat entschieden, dass die strafrechtliche Verurteilung im Rahmen einer Wahlfeststellung nicht gegen Verfassungsrecht verstößt. Sie verletze weder den Grundsatz "nulla poena sine lege" noch die Unschuldsvermutung. Die Verurteilung „entweder oder“ müsse jedoch die absolute Ausnahme bleiben.

Die Wahlfeststellung ist ein seit jeher umstrittenes Rechtsinstitut. Sie führt zur Verurteilung eines Straftäters,

  • obwohl nicht feststeht, welchen von zwei Straftatbeständen er verwirklicht hat,
  • gleichzeitig aber sicher davon ausgegangen werden kann, dass einer der beiden Tatbestände in jedem Fall verwirklicht wurde.

Meinung zur Wahlfeststellung war am BGH lange gespalten

Zwischen den Strafsenaten des BGH herrschte lange Zeit Uneinigkeit über die Anwendung der Wahlfeststellung. Der zweite Senat vertrat unter dem Vorsitz von Thomas Fischer lange Zeit die Auffassung, dass es sich bei der Wahlfeststellung nicht um eine rein prozessuale Entscheidungsregel sondern um materielles Strafbegründungsrecht handle und daher einer gesetzlichen Regelung bedürfe (BGH, Beschluss v. 16.8.2016, 5 StR 182/16). Der Große Strafsenat hatte darauf für die anderen Senate verbindlich festgestellt, dass die wahldeutige Verurteilung mit dem Grundgesetz vereinbar ist (BGH, Beschluss v. 8.5.2017, GSSt 1/17).

BVerfG bestätigt Ansicht des Großen Strafsenats zur Wahlfeststellung

Das BVerfG hat nun in einem Fall entschieden, in dem nicht geklärt werden konnte, ob die Täter bei ihnen aufgefundenes Diebesgut selbst gestohlen hatten. Bei dem Diebesgut handelte es sich um Fahrzeuge bzw. Fahrzeugteile, die bei der Durchsuchung der Räume der Angeklagten sichergestellt wurden. Nicht geklärt werden konnte, ob die Angeklagten die Gegenstände

  • durch gemeinschaftlich begangenen, gewerbsmäßigen Diebstahl gemäß § 242 Abs. 1 StGB
  • oder ob sie die gestohlenen Gegenstände lediglich gewerbsmäßig als Hehler weiterveräußert hatten, strafbar gemäß §§ 259 Abs. 1, 260 Abs. 1 Nr. 1 StGB.

Verurteilt wurde wegen Diebstahls oder Hehlerei

Das LG hatte die Täter wegen Unaufklärbarkeit des genauen Tatgeschehens im Wege der Wahlfeststellung alternativ wegen gewerbsmäßigen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei verurteilt.

Die Verurteilten griffen das Urteil mit einer Verfassungsbeschwerde an und rügten, das Urteil beruhe im Ergebnis auf einer ungeschriebenen Norm, die im StGB nicht aufgeführt sein und verstoße daher gegen Art. 103 Abs. 2 GG, wonach eine Verurteilung ohne gesetzliche Grundlage nicht statthaft sei. Außerdem verletze die Verurteilung nach zwei alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen den Grundsatz der Unschuldsvermutung.

Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ wird nicht tangiert

Die Verfassungsrichter ließen sich von dieser Argumentation nicht überzeugen. Nach Auffassung des höchsten deutschen Gerichts wird der in Art. 103 Abs. 2 GG postulierte Grundsatz, dass eine Verurteilung ohne Gesetz nicht zulässig ist (nulla poena sine lege) durch die Wahlfeststellung nicht tangiert.

Das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung schließt nach dem Diktum der Verfassungsrichter nämlich keine materiellrechtliche Gesetzeslücke, vielmehr diene die Wahlfeststellung allein dazu, Lücken bei der Ermittlung und den daraus folgenden Erkenntnissen zum Tatgeschehen gerecht zu werden. In der besonderen Beweissituation, in der feststehe, dass der Täter eines von zwei in Betracht kommenden Delikten begangen hat, enthalte das Rechtsinstitut der ungleichartigen Wahlfeststellung eine Lösung, die ausschließlich dem Strafverfahrensrecht zuzuordnen sei und daher den materiellen Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG nicht berühre.

Wahldeutige Verurteilung verletzt auch die Unschuldsvermutung nicht

Auch die Unschuldsvermutung wird nach Auffassung der Verfassungsrichter durch das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung nicht verletzt. Dieser Grundsatz beinhalte, dass das Gericht bei der wahldeutigen Verurteilung grundsätzlich die für den Angeklagten günstigste Tatgestaltung zugrunde legt und damit auch die mildeste Rechtsfolge anordnet. Damit orientiere sich die Wahlfeststellung streng am strafrechtlichen Schuldgrundsatz und widerspräche auch nicht der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung.

Vielmehr habe das Gericht zu berücksichtigen, dass ein Freispruch trotz unzweifelhaft strafbaren Verhaltens dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit als tragender Leitidee des Grundgesetzes widersprechen würde. Die Rechtsstaatlichkeit verpflichte den Staat, seine Bürger zu schützen und eine funktionsfähige Justiz vorzuhalten.

Unrechts- und Schuldgehalt müssen bei der Wahlfeststellung vergleichbar sein

Dies gilt nach Auffassung der Verfassungsrichter jedenfalls dann, wenn die alternativ in Betracht kommenden Straftatbestände einen vergleichbaren Unrechts- und Schuldgehalt besitzen. Die Vergleichbarkeit sei unter anderem an der Art des geschützten Rechtsguts sowie an dem vom Gesetz zur Verfügung gestellten Strafrahmen festzumachen. Die Verfassungsrichter bewerteten die Wahlfeststellung damit als ein zulässiges Rechtsinstitut richterlicher Rechtsfortbildung.

Bei der Anwendung der Wahlfeststellung ist äußerste Zurückhaltung geboten

Allerdings wiesen die Verfassungsrichter auch auf die Grenzen der Wahlfeststellung hin. Keinesfalls dürfe das Rechtsinstitut dazu führen, dass eine weitere Aufklärung des Tatsachenstoffes unterbleibt, wenn diese grundsätzlich noch möglich ist. Bereits bei der Entscheidung über die Eröffnung eines Hauptverfahrens hätten die Strafgerichte daher sorgfältig zu prüfen, ob eine Wahlfeststellung im weiteren Verfahren Thema werden könnte und ob die Ermittlungsbehörden tatsächlich sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts ausgeschöpft haben. Auch die Urteilsgründe müssten im Rahmen einer wahldeutigen Verurteilung erkennen lassen, dass sämtliche Beweismöglichkeiten ausgeschöpft wurden und dennoch eine eindeutige Zuordnung des Tatsachenstoffes zu dem einen oder dem anderen Straftatbestand nicht möglich ist.

(BVerfG, Beschluss v. 5.7.2019, 2 BvR 167/18).

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