Viele Kollegen glauben, dass die Mediation, genau wie die Suche nach Ansprüchen und deren Durchsetzung im rechtlichen Verfahren, eine intellektuelle Disziplin ist. Meine Hypothese aus 30 Jahren Erfahrung mit Konfliktlösungen mit Macht, Recht und Interessenausgleich ist eine andere: Ob man Mediation versteht und anwendet, hat nichts mit intellektueller, sondern hat mit geistiger Intelligenz zu tun. Wenn noch die Vorstellung dominant ist, dass sämtliche Konflikte nur mit Gewalt gelöst werden können, kennt man nur Macht als Konfliktlösungsmittel. Wenn schon erkannt wurde, dass allgemeingültige Vereinbarungen helfen können, glaubt man an Recht und staatliche Macht als Durchsetzungsmittel. Wer zusätzlich dazu schon erfahren hat, dass äußere Konflikte die Tendenz haben, Spiegelbild innerer Konflikte zu sein, gibt dem Interessenausgleich in der Form der Mediation, des Coachings oder der Therapie den Vorzug.

Das Mediationsverfahren folgt den von Grawe/Roth (Grawe, Neuropsychotherapie, Göttingen 2004; Roth/Ryba, Coaching, Beratung und das Gehirn: Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte, Stuttgart 2016) formulierten Phasen wirksamer Verhaltensveränderung: Der Mediator baut zuerst die mediative Allianz auf, aktiviert das Problem emotional, ermittelt die motivationale Struktur der Beteiligten, findet Ressourcen, welche beide motivationalen Strukturen befriedigen können, und verknüpft das Problem mit Ressourcen zur Lösung.

Die mediative Allianz (Vertrauen, Rapport) baut der Mediator in der Opening-Phase auf, genau wie wir Anwälte beim Erstgespräch: Ich selbst muss glauben, dass ich dem Mandanten helfen kann und will. Der Mandant sollte daran glauben, dass ich ihm helfen kann, und beide sollten wir daran glauben, dass das Recht das richtige Konfliktlösungsmittel ist. Was hier v.a. hilft ist, sich einfühlen zu können. Wir sollten in der Lage sein, die Erzählung unseres Mandanten emotional nachzuvollziehen. Können wir das nicht, laufen wir Gefahr, dass es zu keinem Mandatsverhältnis kommt oder uns unsere Mandanten nicht vertrauen und uns deshalb nur benutzen.

In der Positionen-Phase geht es darum, dass die Parteien erklären, was ihr Problem ist. Das Problem ist meistens der andere, der nicht das tut, was „ich” möchte. Das ist identisch mit der von uns behaupteten Verletzung des Anspruchs unseres Mandanten.

In der Interessen-Phase, die im rechtlichen Prozess etwa der Beweismittelphase entspricht, geht es in der Mediation nicht darum, Beweismittel für die richterliche Entscheidungsgrundlage zu bezeichnen, sondern herauszufinden, aus welchem inneren Beweggrund (Motiv, Interesse, Wert) die Parteien ihre Forderungen stellen. Nicht das "äußere Gesetz" ist die Leitlinie der Konfliktlösung, sondern das "innere Gesetz". Die Entwicklungspsychologen gehen davon aus, dass dies dann möglich ist, wenn die äußeren Gesetze in die Psyche integriert und transformiert sind. Solche Leitlinien können das authentische Interesse nach Freiheit, Sicherheit, Anerkennung, Macht, Harmonie, Intensität, Integrität, Fürsorge oder Neugier sein. Es geht um Wahrhaftigkeit und Würde und nicht mehr unbedingt um Ehre und Wahrheit.

Hier trennen sich nun die Wege: Im juristischen Verfahren suchen wir Ansätze zur Lösung in der Außenwelt (Recht), in der Mediation sucht man diese in der Innenwelt (Psyche, Geist, Seele). Wer noch der Meinung ist, dass das alles "irrationaler Humbug" sei, hat zur Mediation im Moment noch keinen Zugang. Wir Anwälte sind in dieser Sichtweise übrigens nicht die "Interessenvertreter" unserer Mandanten, sondern die "Anspruchsvertreter".

Der Mediator versucht hier, nicht wie wir Anwälte, den Richter von der Richtigkeit oder Wahrheit der Forderungen zu überzeugen, sondern die Medianden anzuregen, sich in einem Selbstfindungsprozess gegenseitig von der Wahrhaftigkeit der vorgeschlagenen Interessen zu überzeugen und diese miteinander neu zu verknüpfen, sodass Lösungen entstehen.

Zur Illustration der Interessen-Phase ein prozessual vereinfachtes Beispiel: In einem arbeitsrechtlichen Prozess behaupte ich als Anwalt des Arbeitgebers, dass der Arbeitnehmer Grund zur fristlosen Entlassung geboten hat, da er sich mit den Untergebenen gegen die Vorgesetzten solidarisiert und damit sein Vertrauen verspielt hat. Der Kollege bestreitet dies. Der Richter bittet uns, unsere Ansprüche zu beweisen. Der Mediator würde den Mandanten des Kollegen fragen, was er verlieren würde, wenn er sich nicht mit den Untergebenen solidarisiert hätte, und dieser meint, dass dann der Erfolg des Projekts gefährdet gewesen wäre, da die Untergebenen über bedeutend mehr Sachverstand verfügen würden als die Vorgesetzten. Mein Mandant meint, dass er ein solches Vorgehen nicht zulassen könne, da dies den Arbeitsfrieden im Unternehmen gefährden würde.

Der Mediator arbeitet heraus, dass es dem Arbeitnehmer um den Erfolg des Projekts (Anerkennung) geht und meinem Mandanten um die Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens im Unternehmen (Harmonie und Sicherheit).

In der anschli...

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