I. Aufenthaltsrecht

1. Eigenständiges befristetes Aufenthaltsrecht des Elternteils eines minderjährigen ledigen Deutschen nach Aufhebung der familiären Lebensgemeinschaft?

In seinem unmittelbaren Anwendungsbereich regelt § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG unter den dort genannten Voraussetzungen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des nachgezogenen ausländischen Ehegatten nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit dem ebenfalls ausländischen Stammberechtigten. Dieser Anspruch ist wiederum Voraussetzung für eine darauf aufbauende Verlängerung im Ermessenswege nach § 31 Abs. 4 S. 2 AufenthG. Über die Verweisung in § 28 Abs. 3 S. 1 AufenthG wird dieses eigenständige Aufenthaltsrecht unzweifelhaft auch dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen gewährt. Demgegenüber wird die Frage, ob auch dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen nach Aufhebung der familiären Lebensgemeinschaft ein von deren Führung unabhängiges und damit eigenständiges befristetes Aufenthaltsrecht nach den genannten Vorschriften zusteht, in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beantwortet (vgl. zum Meinungstand nur Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 28 Rn 61 ff., m.w.N.).

In seinem Urt. v. 11.10.2022 (1 C 49.21, ZAR 2023, 175) hat das BVerwG nun klargestellt, dass die Verweisung in § 28 Abs. 3 S. 1 AufenthG nicht dahingehend auszulegen ist, dass sie (auch) den ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen begünstigt. § 28 Abs. 3 S. 1 AufenthG verweise nämlich nicht nur auf die Rechtsfolge des § 31 AufenthG, den Erwerb eines eigenständigen befristeten Aufenthaltsrechts, sondern – mit den dort genannten Maßgaben – auch auf dessen tatbestandliche Voraussetzungen. Das BVerwG begründet seine Auslegung von § 28 Abs. 3 S. 1 AufenthG als Rechtsgrundverweisung mit dem Wortlaut der Vorschrift, der Gesetzessystematik und dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers, der bewusst von der Begründung eines eigenständigen befristeten Aufenthaltsrechts für ausländische Elternteile minderjähriger lediger Deutscher abgesehen habe. Eine am Sinn und Zweck orientierte Auslegung stehe diesem Verständnis nicht entgegen. Im Anschluss an diesen Befund verneint das BVerwG auch die Frage, ob im Lichte des Verfassungsrechts (Art. 3 Abs. 1 GG) oder Unionsrechts eine Auslegung des § 28 Abs. 3 S. 1 AufenthG als Rechtfolgenverweisung geboten ist. Dabei verweist das Gericht hinsichtlich etwaiger Wertungswidersprüche zu anderen Verweisungsvorschriften des AufenthG (§ 28 Abs. 2 S. 1 bzw. Abs. 4, § 36 Abs. 2 S. 2, § 25b Abs. 4 S. 3) im Kern auf die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers und der nicht gegebenen Vergleichbarkeit der jeweils geregelten Konstellationen. Zur Einräumung eines eigenständigen befristeten Aufenthaltsrechts des Elternteils eines minderjährigen ledigen Deutschen verpflichte auch die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22.9.2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung nicht.

 

Hinweis:

Die Entscheidung des BVerwG schafft (wieder einmal) Klarheit in einer in Rechtsprechung und Literatur seit Langem umstrittenen Frage.

2. Unzumutbarkeit der Passbeschaffung bei Erfordernis einer sog. Reueerklärung

Die Aufenthaltsverordnung (AufenthV) unterscheidet – soweit hier von Interesse – zwischen einem Reiseausweis für Flüchtlinge (§ 1 Abs. 3 AufenthV) und einem Reiseausweis für Ausländer (§§ 5 ff. AufenthV). Während anerkannte Flüchtlinge einen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge für Reisen außerhalb ihres Gebiets haben, soweit nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen (Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU i.V.m. Art. 28 Abs. 1 S. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention), steht die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer gem. § 5 Abs. 1 AufenthV unter der Voraussetzung, dass der Ausländer nachweislich keinen Nationalpass besitzt und diesen auch nicht auf zumutbare Weise erlangen kann. § 5 Abs. 2 AufenthV enthält eine nicht abschließende („insbesondere”) Auflistung, was als zumutbar in diesem Sinne gilt. Die Frage der Zumutbarkeit der Passerlangung im Kontext einer sog. Reueerklärung steht im Zentrum des Urteils des BVerwG v. 11.10.2022 (1 C 9.21, NVwZ 2023, 439).

Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger, einem eritreischen Staatsangehörigen, den subsidiären Schutzstatus zuerkannt hatte, lehnte die beklagte Ausländerbehörde seinen Antrag auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer unter Hinweis darauf ab, ihm sei es zuzumuten, bei der eritreischen Botschaft einen Passantrag zu stellen. Mit seiner daraufhin erhobenen Verpflichtungsklage hatte der Kläger vor dem VG Erfolg, ist in der Berufungsinstanz aber erfolglos geblieben. Von einer Unzumutbarkeit i.S.d. § 5 Abs. 1 AufenthV sei nach Auffassung des OVG auch dann, wenn der drohende ernsthafte Schaden von staatlichen Behörden ausgehe, nur bei Hinzutreten weiterer Umstände auszugehen. Einen solchen Umstand begründeten weder die von der eritreischen Auslandsvertretung in diesem Zusammenhang geforderte Entrichtung einer „Aufbau-” oder „Diasporasteuer” noch die Unterzeichnung einer sog. Reueerklärung („letter of regret” oder „repentance letter”), in der der Erklärende...

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