Nach § 130a S. 1 VwGO kann das OVG über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts („kann”). Von dieser Möglichkeit wird in letzter Zeit gerade in asylrechtlichen Verfahren immer häufiger Gebrauch gemacht. Dementsprechend bieten sich dem BVerwG vermehrt Möglichkeiten, die rechtlichen Anforderungen für eine Entscheidung nach § 130a VwGO zu konturieren.

In dem Beschl. v. 27.3.2023 (1 B 72.22, juris) werden die verfahrensrechtlichen Anforderungen nach Satz 2 des § 130a VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 S. 3 VwGO näher beleuchtet. Bei einem Vorgehen nach § 130a VwGO müsse die Anhörungsmitteilung unmissverständlich erkennen lassen, wie das OVG zu entscheiden beabsichtige. Das gelte sowohl hinsichtlich der Verfahrensweise – ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss – als auch hinsichtlich der beabsichtigten Sachentscheidung – Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung; zu beiden Punkten müsse den Beteiligten rechtliches Gehör gewährt werden. Hingegen sei es nicht erforderlich, in der Anhörungsmitteilung die Gründe für die beabsichtigte Entscheidungsform bzw. die – vor der Schlussberatung ohnehin nur vorläufigen – Gründe für die beabsichtigte Entscheidung in der Sache anzugeben. Anlass für eine weitere Anhörung durch das OVG bestehe dann, wenn ein Beteiligter auf die erste Anhörung hin einen Beweisantrag stelle, der in mündlicher Verhandlung nach § 86 Abs. 2 VwGO beschieden werden müsste.

In den Beschl. v. 27.3.2023 (1 B 72.22, juris) und v. 14.12.2022 (1 B 51.22, juris) betont das BVerwG zudem, dass die Grenzen des dem OVG durch § 130a S. 1 VwGO eingeräumten Ermessens weit gezogen seien. Mit dem Grad der Schwierigkeit der Rechtssache wachse auch das Gewicht der Gründe, die gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprächen. Die Grenzen von § 130a S. 1 VwGO seien erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden werde, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweise, oder wenn der Verzicht auf die mündliche Verhandlung auf sachfremden Erwägungen oder auf grober Fehleinschätzung beruhe. In diesem Zusammenhang bezieht sich das BVerwG auch auf die Rechtsprechung des EGMR und des EuGH, wonach dann keine mündliche Verhandlung durchgeführt werden müsse, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwerfe, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen (EuGH, Urt. v. 26.7.2017 – C-348/16, juris Rn 47, m.w.N.). Für die Berufungsinstanz gälten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe.

Ebenso wenig folge aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK eine Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm sei nicht direkt anwendbar; davon unberührt bleibe allerdings, dass die vom EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen bei konventionskonformer Anwendung i.R.d. Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom OVG zu berücksichtigen seien.

Das nach nationalem Recht in konventionskonformer Auslegung eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, werde auch nicht mit Blick auf Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU bzw. Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC eingeschränkt oder ausgeschlossen. Jedenfalls dann, wenn das Gericht der Auffassung sei, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden ex-nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs nach Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen könne, könne es die Entscheidung treffen, den Antragsteller i.R.d. Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen.

Das Ermessen des OVG, im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130a VwGO zu entscheiden, sei ferner nicht dadurch eingeschränkt, dass bereits die Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit Zustimmung der Beteiligten (und damit ohne den Beteiligten die Möglichkeit des persönlichen Vortrags zu nehmen) ohne mündliche Verhandlung ergangen sei. Zwar verlange die bei der Ermessensausübung zu beachtende Regelung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der ständigen, auf der Grundlage der Rechtsprechung des EGMR entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhielten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Wenn die Beteiligten in der ersten Instanz Gelegenheit zu einer mündlichen Verhandlung hatten und sie freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzicht...

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