In dem Urteil vom 23.6.2020 (1 C 37.19, InfAuslR 2020, 399 ff.) hatte das BVerwG über eine in jüngster Zeit immer wiederkehrende Fallkonstellation zu entscheiden. Das Bundesamt lehnte den Asylantrag eines in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Kindes, dessen Eltern bereits in Italien internationaler Schutz gewährt wurde, gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ab, da nach Maßgabe der Dublin III-VO Italien für die Prüfung des Asylantrags zuständig sei. Es bedurfte nach Auffassung des Bundesamtes auch nicht der Einleitung eines Zuständigkeitsverfahrens für das nachgeborene Kind, weil Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO über eine erweiternde Auslegung bzw. analog Anwendung finde.

Art. 20 Dublin III-VO regelt in Abs. 1 die Einleitung des Verfahrens zur Bestimmung des für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaates und sieht in Abs. 3 für Minderjährige die Zuständigkeit des Mitgliedstaates vor, der (auch) für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz des Familienangehörigen zuständig ist. Danach ist für die Zwecke dieser Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaates, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient (S. 1). Ebenso wird bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss (S. 2). Diese verfahrensakzessorische Zuständigkeitsvorschrift betrifft unmittelbar den Fall, dass die Eltern des Minderjährigen selbst dem Anwendungsregime der Dublin III-VO unterfallen. Wurde den Eltern in einem (ersten) Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt und stellen sie in einem anderen (zweiten) Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag, kann der zweite Mitgliedstaat den ersten Mitgliedstaat indes nicht nach den Regelungen der Dublin III-VO wirksam um Wiederaufnahme der Eltern ersuchen (vgl. EuGH ZAR 2017, 413 ff.). Eine Rückführung in den Schutz gewährenden Mitgliedstaat kann nur auf anderer Rechtsgrundlage (z.B. bilaterale Rückführungsabkommen) erfolgen. Für das nachgeborene Kind von bereits international Schutzberechtigten ist der Anwendungsbereich der Dublin III-VO hingegen eröffnet; es fehlt indes an einer ausdrücklichen Zuständigkeitsbestimmung für die Bearbeitung des Asylantrags des nachgeborenen Kindes.

In einer derartigen Konstellation gehen das Bundesamt sowie die wohl überwiegende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung (vgl. insoweit die umfangreichen Rechtsprechungsnachweise in Rn 15 des Urt. v. 23.6.2020, a.a.O.) mit im Einzelnen unterschiedlicher Begründung davon aus, dass der für die Bearbeitung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat aus einer analogen Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO hergeleitet werden kann. Diese Frage hat das BVerwG in dem Urt. v. 23.6.2020 ausdrücklich offen gelassen, zugleich aber darauf hingewiesen, dass sie ohne eine Vorlage an den EuGH schwerlich bejaht werden könne. Nach Auffassung des BVerwG scheidet eine analoge Anwendung zumindest der Sonderregelung in Art. 20 Abs. 3 S. 2 letzter Hs. Dublin III-VO aus, wonach es der Einleitung eines „neuen Zuständigkeitsverfahrens” für das Kind nicht bedarf, weil es insoweit an der erforderlichen Wertungsgleichheit bzw. Vergleichbarkeit von geregeltem und ungeregeltem Sachverhalt fehle. Als maßgeblich erachtet das BVerwG dabei, dass der Aufnahmemitgliedstaat ohne die Durchführung eines Zuständigkeitsverfahrens keine Kenntnis von einer möglichen Aufnahmesituation erlangte, und dass der Schutz durch das Fristenregime des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahrens des Dublin-Systems entfiele.

Auf der Grundlage der vorstehenden Rechtsauffassung kam es für das BVerwG im Streitfall nicht entscheidungserheblich darauf an, ob eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO auf nachgeborene Kinder bereits international Schutzberechtigter von vornherein nicht in Betracht kommt. Denn eine etwaige über eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO begründete Zuständigkeit Italiens wäre gem. Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, weil das Bundesamt Italien nicht innerhalb der in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 bzw. 2 Dublin III-VO geregelten Fristen um Aufnahme der Klägerin ersucht hatte.

 

Hinweis:

Durch das Urt. v. 23.6.2020 ist nunmehr als geklärt anzusehen, dass das Bundesamt zur Vermeidung eines Zuständigkeitsübergangs den als zuständig erachteten Mitgliedstaat innerhalb von drei Monaten ab Antragstellung bzw. zwei Monate nach Erhalt der Eurodac-Treffermeldung um Aufnahme des nachgeborenen Kindes ersuchen muss. Demgegenüber wartet die Frage, ob eine Zuständigkei...

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