Der Gesetzgeber sah sich in den letzten Jahren, sowohl durch politische Engpässe, wirtschaftliche Opportunitäten, alterungsspezifische Vorgaben, Wahlversprechen geprägt, aber auch von persönlichkeitsbezogenen (personenbezogenen) Projekten und Zielen gejagt, bemüßigt, das juristische Feld in weiten Bereichen neu zu bestellen. Die Ernte ist zwar bis heute nicht eingefahren, die Experimente mit gesetzlichen Neuerungen laufen jedoch unbeirrt weiter; Flurschäden sind genügend hinterlassen.

"Ändere nur dann ein Gesetz, wenn Du sicher bist, dass die Novelle besser ist als das in der Praxis geprüfte alte Gesetz." (These eines Referendarausbilders)[1]

Gesetze, gerade mit Bezug zum sozialen Leistungsrecht, erreichen mittlerweile Haltbarkeitszeiten, für die so manches Lebensmittelprodukt vom Markt zu nehmen wäre. Vielleicht haben die biblischen 10 Gebote nur deswegen ihre Klarheit nicht eingebüßt, weil sie ohne Sachverständigenkommission entstanden sind,[2] und waren deswegen solange von Bestand, weil hier nicht Politiker das letzte Wort hatten. Qualitative Vorbehalte gegenüber der Gesetzgebung äußerten schon von Bismarck und Moser:

"Wer weiß, wie Gesetze und Würste zustande kommen, kann nachts nicht mehr ruhig schlafen". (Otto Fürst von Bismarck)

"Das Auge des Gesetzes blickt selten hinter die Kulissen des Lebens." (Jürg Moser)

Auch wenn es Ministerialbeamte kaum berührt, die Tagespraxis ist nicht erfreut über ständige Veränderungen in den Nummerierungen der jeweiligen von ihr auch in historischer Herleitung anzuwendenden Leistungsgesetze.

Zutreffend skizziert Dr. Gerda Müller (ehemals Vorsitzende Richterin des VI. Zivilsenates und Vizepräsidentin des BGH):[3]

"Kürzlich erkundigte sich ein Kollege aus einem Strafsenat bei mir quasi hinter vorgehaltener Hand, ob es den § 823 BGB noch gebe, und ich war froh, dies auf Anhieb bejahen zu können, ohne ihm sagen zu müssen “da muss ich erst einmal nachschauen’."

Dieser Vorfall erscheint mir kennzeichnend für die derzeitige Geistesverfassung der meisten Juristen, nämlich

sowohl die vorsichtige Erkundigung bei jemandem, der Bescheid wissen könnte,
als auch dessen Freude, wenn er tatsächlich Bescheid weiß,
und schließlich die gemeinsame Freude darüber, dass doch nicht alles geändert worden ist.

Ja, wir sind – wie ich das in einer Zeitung las – weitgehend von Rechtskundigen zu Rechtsunkundigen geworden, und es drängt sich die Erinnerung an die Einführung des BGB auf, die mehrere Reichsgerichtsräte veranlasst haben soll, entnervt in den Ruhestand zu fliehen, um nicht das neue Recht und seine Anwendung erlernen zu müssen.

Nachstehende Worte von Prof. Willi Geiger (ehemals Richter am BVerfG) haben an Aussagekraft nach wie vor nichts verloren. Im Gegenteil, sie gelten inhaltlich verstärkt fort:[4]

"In Anbetracht der Unmenge und der kaum noch durchschaubaren Kompliziertheit der Regelungen, die der Gesetzgeber, man ist versucht zu sagen, fabriziert hat und täglich fabriziert, wird der Bürger in seinen Erwartungen an das Gericht bescheidener werden müssen. Es ist für die unmittelbar Beteiligten objektiv nicht mehr möglich, den Ausgang eines Rechtsstreits zu kalkulieren. Da wird nicht nur mit der Beweislast immer raffinierter umgegangen, da wird auch überall und in den überraschendsten Kombinationen abgewogen, da gibt es Ausnahmen von der Regel zuhauf, da wird dem einen zugemutet, was dem anderen unzumutbar ist."

Ich wage nach einem langen Berufsleben in der Justiz, wenn ich gefragt werde, den Ausgang eines Prozesses nur noch nach dem im ganzen System angelegten Grundsatz vorauszusagen:

Nach der Regel müsste er so entschieden werden; aber nach einer der vielen unbestimmten Ausnahmen und Einschränkungen, die das Recht kennt, kann er auch anders entschieden werden. Das genaue Ergebnis ist schlechthin unberechenbar geworden.

Allenfalls kann man mit einiger Sicherheit sagen:

Wenn du meinst, du bekommst alles, was dir nach deiner Überzeugung zusteht, irrst du dich.

Ein der Entlastung der Gerichte dienlicher Rat könnte bei dieser Lage der Dinge sein:

Führe möglichst keinen Prozess; der außergerichtliche Vergleich oder das Knobeln erledigt den Streit allemal rascher, billiger und im Zweifel ebenso gerecht wie ein Urteil.

Das heißt in allem Ernst:

Unter den in der Bundesrepublik Deutschland obwaltenden Verhältnissen von den Gerichten Gerechtigkeit zu fordern, ist illusionär.“

Parallel zur gesteigerten Unübersichtlichkeit von Rechtsprechung, Verwaltungshandeln und Gesetzgebung hat der BGH den althergebrachten Grundsatz "iura novit curia" ad acta gelegt und die umfassenden Rechtskenntnisse (verbunden mit entsprechender Haftung) allein dem anwaltlichen Vortrag überantwortet (siehe § 1 Rn 19 ff.).

Die Praxis hat mit dem vorwiegend tagespolitisch bestimmten Prozedere erhebliche Probleme, da die Rechtsprechung ebenso wenig wie die die Gesetzgebung prägende Ministerialbürokratie das Zusammenspiel verschiedener Gesetze und Rechtslagen im Leistungs- und Regressbereich überblickt. Hinzu kommt, dass die au...

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