Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Exoskelett als Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich. Leistungsanspruch hinsichtlich eines fortschrittlicheren Hilfsmittels. Gleichziehen mit Nichtbehinderten keine Voraussetzung für die Versorgung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Hilfsmittel Exoskelett dient vorliegend der Wiederherstellung der Gehfähigkeit und damit dem unmittelbaren Behinderungsausgleich. Ein unmittelbarer Funktionsausgleich liegt vor, wenn das Hilfsmittel die ausgefallene oder beeinträchtigte Körperfunktion ausgleicht, indem es die Ausübung der Körperfunktion selbst ermöglicht, ersetzt oder zumindest erleichtert (vgl BSG vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R = BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2).

2. Die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (vgl BSG vom 6.6.2002 - B 3 KR 68/01 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 44, vom 25.6.2009 - B 3 KR 10/08 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 23 und vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R aaO).

3. Der Leistungsanspruch hinsichtlich eines fortschrittlicheren Hilfsmittels wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein vollständiges Gleichziehen mit einem gesunden Versicherten auch damit nicht erreicht werden kann.

4. Ein Gleichziehen mit Nichtbehinderten ist nur das Ziel des anzustrebenden möglichst vollständigen funktionellen Ausgleichs, nicht aber die Voraussetzung für die Versorgung.

 

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 09.09.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.06.2015 verurteilt, den Kläger mit einer ReWalk-Orthese (Exoskelett) des Herstellers A…M…Technologies GmbH zu versorgen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Versorgung mit einer ReWalk-Orthese. Es handelt sich hierbei um eine motorbetriebene computergesteuerte Exoskelett-Orthese, die es Menschen mit einer Rückenmarksverletzung mittels einer Bewegungstechnologie für Hüfte und Knie ermöglicht, aufrecht zu stehen und zu gehen.

Der 1972 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er ist gelernter Bürokaufmann und ist aktuell auf 450 Euro-Basis in der Finanzbuchhaltung berufstätig. Ein behindertengerecht umgebautes Kraftfahrzeug kann er selbstständig fahren.

Der Kläger leidet nach einem Autounfall im Jahr 2006 an einer Querschnittslähmung (Paraplegie ab Th6). Auf Grund dieser Behinderung kann er weder stehen, gehen, aufstehen noch Treppen steigen. Er ist stets auf einen Rollstuhl angewiesen, um sich darin sitzend fortzubewegen. Zudem ist er seit 2013 durch die Beklagte mit einer Stehhilfe versorgt.

Im Zeitraum vom 14.07.2014 bis 15.08.2014 erfolgte in der A…-Klinik in F… auf Kosten der Beklagten eine Erprobung der begehrten ReWalk-Orthese.

Unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung der A…-Klinik F… vom 15.08.2014 mit Erprobungsbericht und einem Kostenvoranschlag der R… R.. GmbH vom 19.08.2014 über 71.958,35 Euro beantragte der Kläger daraufhin bei der Beklagten ein ReWalk P-System mit höhenverstellbaren Unterarmgehstützen mit anatomisch geformten Handgriffen.

Die Beklagte veranlasste eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Rheinland-Pfalz (MDK). In seinem Sozialmedizinischen Gutachten vom 01.09.2014 teilte der Arzt im MDK Dr. S... mit, bei der derzeitigen Erprobung verschiedener elektronisch gesteuerter Exoskelettsysteme mit Motorkraft würde von den Probanden das Stehen auf Augenhöhe als besonders angenehm angegeben und als Steigerung der Lebensqualität empfunden. Unstrittige Vorteile seien auch eine durch die Vertikalisierung zu erwartende Verbesserung der Gefäß-, Blasen- und Verdauungsfunktion durch orthostatisches Belastungstraining sowie eine Verbesserungsmöglichkeit der Rumpfstabilität und Verminderung der sekundären spinalen Spastiken. Diese Behandlungsziele würden nachvollziehbar auch für den Kläger angegeben. Nachteilig habe sich aber bei verschiedenen Anwendungsbeobachtungen in Kliniken eine insgesamt schlechte Nutzerakzeptanz der verwendeten Geräte in der aktuellen Bauform und Funktionsweise gezeigt, die allesamt eine hohe körperliche Fitness zum Training und zum Gehen voraussetzten und passives und sicheres Gehen zur Zeit noch nicht ermöglichen würden. Während der Testphasen sei es häufig zu Druckstellen und Läsionen der Haut durch Scherkräfte unter der Orthesenvergurtung gekommen. Bislang erfolge noch keine evidenzbasierte medizinische Untersuchung der Anwendung im privaten Umfeld, die Alltagsvorteile für die behinderten Menschen durch die Systemanwendung belegten. Eine etablierte Hilfsmittelversorgung im Alltag sei mit solchen Systemen bislang nicht definiert. Eine lebensbedrohliche bzw. damit gleichgestellte oder regelmäßig tödliche Erkrankung, die für die Prüfung b...

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