Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlagebeschluss an das BVerfG. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 und des § 7 Abs 5 SGB 2. kein Sozialhilfeanspruch gem § 23 Abs 1 S 3 SGB 12

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG.

2. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = NJW 2010, 505). Die Gewährung existenzsichernder Leistungen darf deshalb nicht von der Erfüllung bestimmter Gegenleistungen, Handlungen oder Eigenschaften des Hilfebedürftigen oder von einem bestimmten Status des Hilfebedürftigen abhängig gemacht werden.

3. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 5 SGB II verstößt ebenfalls gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG. Es ist kein verfassungsrechtliches Argument ersichtlich, weshalb bestimmten Personen nur deshalb, weil sie eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zustehen sollte.

4. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II greift tatbestandlich auch bei Personen, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs 4 AufenthG (juris: AufenthG 2004) oder § 18c AufenthG verfügen.

5. Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II kann nicht durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat vermieden oder gerechtfertigt werden (Fortführung von SG Mainz vom 2.9.2015 - S 3 AS 599/15 ER und vom 12.11.2015 - S 12 AS 946/15 ER).

6. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verstößt auch gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 VO (EG) 883/2004 (juris: EGV 883/2004). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten gerechtfertigt werden, den Zugang zu nationalen Systemen der Sozialhilfe für Unionsbürger zu beschränken (vgl Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG; juris: EGRL 38/2004) (entgegen EuGH vom 15.9.2015 - C-67/14 = NJW 2016, 555).

7. Der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II betroffene Personenkreis hat keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Vom Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II betroffene Personen sind zwar nicht generell von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen. Die Gewährung der Leistungen steht jedoch im Ermessen der Behörde, was den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht genügt.

 

Orientierungssatz

Dem BVerfG werden folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

1. Ist § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 (BGBI Teil I Nr 23, S 857) mit Art 1 Abs 1 Grundgesetz (GG) iVm Art 20 Abs 1 GG - Sozialstaatlichkeit - und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

2. Ist § 7 Abs 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 (BGBI Teil I Nr 23, S 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 1.4.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl Teil I Nr 69, S 2917), mit Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG - Sozialstaatlichkeit - und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

3. Az beim BVerfG: 1 BvL 4/16

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 04.12.2019; Aktenzeichen 1 BvL 4/16)

 

Tenor

1. Das Verfahren wird ausgesetzt.

2. Dem Bundesverfassungsgericht werden folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

a) Ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

b) Ist § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917), mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

 

Tatbestand

Die Kläger begehren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab dem 01.11.2015.

Der am …..geborene Kläger zu 1 ist usbekischer Staatsangehöriger und lebt seit mehreren Jahren in Deutschland. Er ist mit der am ……. geborenen Klägerin zu 2 verheiratet und beide sind Eltern der am …… in Deutschl...

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