Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Apotheker. Arzneimittelabgabe. keine Absetzung des Vergütungsanspruchs in vollem Umfang im Rahmen der Retaxierung bei Verstoß gegen die Pflicht zur Abgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels. Verfassungswidrigkeit

 

Orientierungssatz

1. Ein Verstoß des Apothekers gegen die Pflicht zur Abgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels begründet nicht das Recht der Krankenkasse, einen entstandenen Vergütungsanspruch im Rahmen der Retaxierung in vollem Umfang abzusetzen.

2. Eine Retaxierung des dem Grunde nach entstandenen Vergütungsanspruchs des Apothekers in voller Höhe bedeutet eine Verletzung der Grundrechts der Berufsfreiheit nach Art 12 Abs 1 GG.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 02.07.2013; Aktenzeichen B 1 KR 49/12 R)

 

Tenor

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 17,49 € nebst Zinsen in Höhe von 8 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.02.2009 zu zahlen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Berufung und die Sprungrevision werden zugelassen.

Der Streitwert wird auf 17,49 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Berechtigung der Beklagten, eine Retaxierung wegen einer unterlassenen Abgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels in Höhe des gesamten Kaufpreises durchzuführen.

Der Kläger ist Apotheker und betreibt eine Apotheke in X. Er ist Mitglied des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein e. V. und nimmt an der Arzneimittelversorgung der gesetzlich Krankenversicherten teil.

Am 01.10.2007 stellte der praktische Arzt X Verordnungen für die bei der Beklagten versicherte X. u. a. für das Arzneimittel “Junisac 150 mg N3„ aus. Auf dem Rezeptbogen wurde das Textfeld “aut idem„ nicht durchgestrichen bzw. -gekreuzt. Nach Vorlage der Verordnung in der Apotheke des Klägers am 02.10.2007 gab dieser das Präparat “Junisac 150 mg Filmtabletten„ der Juta Pharma GmbH/Q-Pharm mit einem Verkaufspreis von 19,79 € ab. Das Arzneimittel Junisac 150 mg N 3 enthält den Wirkstoff Ranitidien hydrochlorid . In der sogenannten Lauer-Taxe, Stand 01.10.2007, waren zum damaligen Zeitpunkt insgesamt 32 wirkstoffgleiche Präparate mit Verkaufspreisen zwischen 19,77 und 29,54 € ausgewiesen. Für fünf Arzneimittel waren Rabattverträge i. S. v. § 130 a Abs. 8 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zwischen der Beklagten und den pharmazeutischen Unternehmen abgeschlossen worden. Für das Präparat Junisac 150 mg Filmtabletten bestand kein Vertrag.

Wegen der Abgabe des Arzneimittels Junisac 150 mg Filmtabletten stellte der Kläger der Beklagten 19,79 € in Rechnung. Nachdem die Beklagte die Rechnung abzüglich des Apothekenrabattes zunächst beglichen hatte, teilte sie mit Schreiben vom 22.08.2008 dem Kläger mit, dass sie die Abrechnung wegen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Abgabe rabattbegünstigter Arzneimittel beanstande. Sie machte eine Rückforderung in Höhe von 17,49 €, d. h. in Höhe der Differenz zwischen dem Verkaufspreis von 19,79 € und dem Apothekenrabatt von 2,30 €, geltend und erklärte, sie werde diesen Betrag verrechnen. Mit dem am 21.11.2008 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben vom 17.11.2008 erhob der Kläger Einspruch gegen die Beanstandung. Diesen Einspruch wies die Beklagte mit Schreiben vom 26.11.2008 als unbegründet zurück. Am 20.02.2009 setzte sie den Betrag von 17,49 € von einem zu diesem Zeitpunkt ihr gegenüber bestehenden Zahlungsanspruch des Klägers ab.

Mit dem am 28.05.2009 beim Sozialgericht Berlin eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten hat der Kläger Klage auf Zahlung von 17,49 € nebst Zinsen erhoben.

Das Sozialgericht Berlin hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 28.08.2009 - S 72 KR 910/09 - an das Sozialgericht Lübeck verwiesen.

Zur Begründung der Klage wird im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, eine Retaxierung durchzuführen. Es bestünde ein Anspruch des Klägers auf Zahlung des streitbefangenen Betrages aus § 129 SGB V i. V. m. dem Rahmenvertrag (RV) nach § 129 Abs. 2 SGB V sowie dem auf Landesebene geschlossenen Arzneilieferungsvertrag (ALV). Dabei handele es sich entgegen der früheren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht um einen Kaufpreisanspruch. Vielmehr beruhe die Forderung eines Apothekers auf Vergütung der Abgabe eines vertragsärztlich verordneten Arzneimittels unmittelbar auf den genannten Vorschriften. Eine Retaxierung des Anspruchs des Klägers in Höhe des gesamten Kaufpreises sei nicht zulässig. Es bestünde keine gesetzliche Bestimmung, die den Wegfall des Vergütungsanspruches einer Apotheke bei Nichtabgabe rabattbegünstigter Arzneimittel regele. Eine vertragliche Vereinbarung über den kompletten Wegfall des Vergütungsanspruchs einer Apotheke bei Nichtabgabe rabattbegünstigter Arzneimittel existiere ebenfalls nicht. Weder im Rahmenvertrag nach § 129 Abs. 2 SGB V noch im Arzneilieferungsvertrag nach § 129 Abs. 5 Satz 1 SGB V sei eine entsprechende Regelung vereinbart worden. Der Zahlungsanspruch der Apotheke gegenüber der Krankenkasse sei nach § 3 Abs. 2 RV le...

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