Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz für eine private Verrichtung eines behinderten Schülers

 

Orientierungssatz

1. Dem Unfallversicherungsschutz der Schüler während des Besuches von allgemein- oder berufsbildenden Schulen unterliegen auch Betätigungen im Rahmen von Betreuungsmaßnahmen. Nicht erfasst wird die private Nahrungsaufnahme, der private Spaziergang oder der Gang zur Toilette.

2. Dies gilt nicht, wenn der zu betreuende Schüler wegen seiner Behinderung eine dem Grunde nach dem privaten Bereich zuzuordnende Tätigkeit ohne Hilfe und Aufsicht durch das Schulpersonal nicht bewältigen kann und hierfür der Betreuung bedarf. Als aufsichtspflichtige Betreuungsmaßnahme wird diese vom Versicherungsschutz umfasst. Kann der behinderte Schüler seine Notdurft ohne die Hilfe des Schulpersonals nicht verrichten, besteht insoweit Versicherungsschutz.

 

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 08.02.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2007 verurteilt, den Unfall des Versicherten vom 29.09.1999 als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Sturz des Schülers (Versicherter) am 29.9.1999 als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen ist.

Der am 3.12.1987 geborene und am 1.9.2006 verstorbene Versicherte besuchte im Jahr 1999 die Schule am Deich (Sonder- bzw. Förderschule) in Leer. Der Versicherte war aufgrund einer fortgeschrittenen Muskeldystrophie rollstuhlpflichtig und bei ihm war ab Februar 1999 ein Hilfebedarf der Pflegestufe III anerkannt. Der Versicherte wurde von dem Sammelbus morgens von zu Hause zur Schule und nachmittags gegen 15 Uhr von der Schule wieder zurück nach Hause gebracht. In der Schule am Deich war zu dieser Zeit der im Dienst der Klägerin stehende Zivildienstleistende als Helfer im Schulbetrieb tätig. Am 29.9.1999 vor dem Verlassen der Schule begleitete der Zivildienstleistende den Versicherten gegen 14.35 Uhr zum Toilettengang. Die Blasenentleerung erfolgte im Fall des Versicherten mit Hilfe einer Urinflasche. Im Toilettenraum stürzte der Versicherte aus dem Rollstuhl auf das rechte Bein und zog sich ausweislich des Durchgangsarztberichtes vom 30.9.1999 eine Oberschenkelmehrfragmentfraktur rechts zu.

Es entstand Streit zwischen der Beklagten und der Krankenkasse des Versicherten der BKK hinsichtlich der Übernahme der unfallbedingt entstandenen Behandlungs- und Krankenkosten. Die Beklagte lehnte eine Kostenerstattung mit der Begründung ab, das Ereignis vom 29.9.1999 stelle keinen Arbeitsunfall im Sinne des Gesetzes dar. Mit undatiertem Schreiben teilte die Beklagte dem Versicherten im August 2001 mit, sein Körperschaden sei mit Schreiben vom 30.5.2000 und 25.7.2000 an die BKK als Arbeitsunfall abgelehnt worden. Die Beklagte erhob gegen die BKK Klage vor dem Sozialgericht Hannover auf Erstattung von Behandlungs- und Krankenkosten (Az. S 36 U 81/03 SG Hannover). Mit rechtskräftigem Urteil vom 14.8.2003 verurteilte das Sozialgericht Hannover die BKK zur Zahlung der von der Beklagten geltend gemachten Behandlungs- und Krankenkosten. In den Entscheidungsgründen wurde ausgeführt, der Versicherte habe am 29.9.1999 keinen Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung erlitten. Die Verrichtung der Notdurft sei grundsätzlich unversichert. Es sei nicht ersichtlich, dass besondere Gefahrenmomente für den Unfall des Versicherten wesentlich gewesen sein könnten. Der ihn betreuende Zivildienstleistende könne nicht als eine besondere betriebliche Gefahr gesehen werden.

In der weiteren Folgezeit verklagte der Versicherte die Klägerin als Dienstherrin des Zivildienstleistenden auf Schadensersatz. Mit Urteil vom 21.10.2005 wies das Landgericht Aurich (Az. 2 O 1810/04 LG Aurich) die Klage ab. Das hiergegen vor dem OLG Oldenburg anhängig gemachte Berufungsverfahren (6 U 269/05 OLG Oldenburg) setzte das OLG mit Beschluss vom 15.5.2006 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Einstandspflicht des gesetzlichen Unfallversicherungsträgers, insbesondere hinsichtlich der Frage des Vorliegens eines Wegeunfalls (richtig: Arbeitsunfall) aus und räumte den Beteiligten eine Frist von 6 Monaten zur Einleitung eines Verwaltungsverfahrens ein.

Darauf hin beantragte der Versicherte bei der Beklagten unter Bezugnahme auf das bei ihm im August 2001 eingegangene Schreiben die Wiederaufnahme des Anerkennungsverfahrens und die Klägerin beantragte die Anerkennung des Unfalls vom 29.9.1999 als Arbeitsunfall.

Mit an den Bevollmächtigten des Versicherten gerichteten Bescheides vom 27.11.2006 lehnte die Beklagte die Rücknahme des am 8.8.2001 erteilten Verwaltungsaktes ab.

Mit Bescheid vom 8.2.2007 zog die Beklagte die Klägerin als Beteiligte zu dem laufenden Verfahren hinzu und lehnte die Gewährung von Leistungen für die Körperschädigung, die sich der Versicherte am 29.9.1999 zugezogen hatte, ab mit der Begründung, be...

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