Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Entschädigungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer. Grundsicherungsempfänger. Aktivlegitimation. kein Anspruchsübergang auf den Grundsicherungsträger bis zur rechtskräftigen Zuerkennung der Entschädigung. konventionskonforme Auslegung. Zurücktreten von § 33 Abs 1 S 3 SGB 2 gegenüber § 198 Abs 5 S 3 GVG. Einhaltung der Klagefrist bei rechtzeitigem PKH-Antrag

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Wahrung der Klagefrist nach § 198 Abs 5 S 2 GVG genügt es, wenn beim Entschädigungsgericht innerhalb der Klagefrist ein formgerechter Prozesskostenhilfeantrag gestellt und unverzüglich nach der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe die Klage erhoben wird.

2. § 33 Abs 1 S 1 SGB II führt nicht dazu, dass Beziehern laufender Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende die Aktivlegitimation für Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer fehlt.

3. Eine Entschädigung für immaterielle Nachteile nach § 198 GVG stellt Einkommen im Sinne des § 11 Abs 1 SGB II dar.

4. Von der Berücksichtigung als Einkommen nimmt der nicht analogiefähige § 11a Abs 2 SGB II immaterielle Entschädigungen nach § 198 GVG nicht aus.

5. Immaterielle Entschädigungen nach § 198 GVG sind keine zweckbestimmten Leistungen im Sinne des § 11a Abs 3 SGB II.

6. Jedenfalls bis zur rechtskräftigen Zuerkennung einer Entschädigung schließt § 198 Abs 5 S 3 GVG einen Anspruchsübergang nach § 33 Abs 1 S 1 SGB II aus.

7. Bei konventionsrechtskonformer Auslegung tritt § 33 Abs 1 S 3 SGB II hinter § 198 Abs 5 S 3 GVG zurück.

 

Orientierungssatz

Zum Leitsatz 1 vgl BSG vom 10.7.2014 B 10 ÜG 8/13 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 2.

 

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 200,00 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 10. März 2017 zu zahlen.

II. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

III. Die Revision wird zugelassen.

IV. Der Streitwert wird auf 200,00 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Entschädigung für die Dauer des Verfahrens S 9 AS 466/14 vor dem Sozialgericht Leipzig (SG).

Der Kläger bezieht von dem im Ausgangsverfahren beklagten Jobcenter A.... Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Gegenstand des Ausgangsverfahrens war der Bescheid des Jobcenters vom 21.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2014, mit dem dem Kläger als monatlicher Bedarf für Kosten der Unterkunft und Heizung in der Wohnung …-Straße in A.... 282,00 € bewilligt wurden. Der Kläger hatte zuvor mit Antrag vom 13.10.2013 die Übernahme der vollen tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung rückwirkend ab dem 01.10.2013 begehrt, nachdem im Rahmen einer vorläufigen Bewilligung mit Bescheid vom 04.09.2013 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 23.11.2013 für die Zeit vom 01.10.2013 bis 31.03.2014 lediglich Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe der früheren Mietkosten von 282,00 € in der …-Straße in A.... übernommen worden waren. Das Jobcenter hatte die Deckelung der Kosten der Unterkunft und Heizung seit dem Auszug des Klägers aus der …-Straße in die zwischenzeitliche Wohnung in der …-Straße und den darauffolgenden Umzug in die …-Straße aufrechterhalten.

Der Verlauf des Ausgangsrechtsstreits gestaltete sich folgendermaßen:

09.02.2014

Klageschrift mit Begründung,

28.03.2014

Eingang von Klageerwiderung und Verwaltungsakten,

04.04.2014

Übersendung der Klageerwiderung an den Kläger zur Kenntnis und Stellungnahme,

10.04. - 23.05.2014

Eingang von Schriftsätzen des Klägers und des Jobcenters,

14.05.2014

Beantragung von Prozesskostenhilfe (PKH) durch den Kläger,

04.07.2014

Übersendung der letzten Schriftsätze durch das SG an den Kläger zur eventuellen Stellungnahme und an das Jobcenter zur Kenntnis und Stellungnahme,

08.07. - 19.08.2014

Eingang von Schriftsätzen,

27.08.2014

richterliche Verfügung: Schriftsätze an Jobcenter zur Kenntnis und eventuellen Stellungnahme; Wiedervorlage 20.09.2014,

26.11.2015

Verzögerungsrüge des Klägers,

27.11.2015

Ladungsverfügung des SG,

09.12.2015

Terminsverlegungsantrag des sich erstmals anzeigenden Klägervertreters,

09.12.2015

Terminsaufhebung und richterlicher Hinweis an das Jobcenter,

09.12.2015

PKH-Beschluss,

15.12.2015

Akteneinsichtsgesuch des Klägervertreters,

08.01.2016

richterliche Verfügung: Akteneinsicht für 3 Wochen gewährt,

03.02.2016

Rücksendung der Akten durch den Klägervertreter,

16.02.2016

Schriftsatz des Klägervertreters mit tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen,

29.02.2016

richterliche Verfügung: Schriftsatz an Jobcenter zur Kenntnis und Stellungnahme,

29.03.2016

Anerkenntnis des Jobcenters,

07.04.2016

Annahme des Anerkenntnisses durch den Klägervertreter.

Am 14.04.2016 hat der Kläger beim Sächsischen Landessozialgericht (LSG) die Bewilligung von PKH für eine Klage auf Entschädigung wegen überlanger Dauer des Verfahrens S 9 AS 466/14 beantragt. Nachdem der Senat dem Kläger PKH bis zu einem Streitwert von 200,00 € bewilligt hatte, hat der Kläger am 10.03.20...

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