Rn 33

Grundlegend ist zunächst die Entscheidung des EuGH v 5.2.63 (van Gend und Loos NJW 63, 974) gewesen, die erstmals eine eigene europäische Rechtsgemeinschaft unter Einbezug der einzelnen Bürger begründet hat. Für das seither unmittelbar geltende Unionsrecht besteht ein Anwendungsvorrang (EuGH Slg 64, 1251, 1269 = NJW 64, 2371; Slg 70, 1125 = NJW 71, 343; Slg 78, 629, 644 = NJW 78, 1741; NJW 99, 2355; Urt v 19.4.16 – Rs C-441/14; BVerfGE 73, 378 – Solange II). Nach dem EuGH gilt dieser ausnahmslos, weil der Vorrang auf dem Wesen der EU als autonomer Rechtsordnung beruht. Nach dem BVerfG sind vom Vorrang drei Ausnahmen anzuerkennen (Grundrechtskontrolle, Verfassungsidentitätskontrolle, ultra-vires-Kontrolle), weil der Vorrang Kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung gilt (BVerfGE 73, 339, 378 – Solange II; 123, 267, 354 – Lissabon; 126, 286 – Mangold; JZ 14, 341 – OMT; dazu Dederer JZ 14, 313; Heun JZ 14, 331; Sauer NJW 16, 1134; grundlegend BVerfGE 31, 145, 174). Im Jahre 2020 hat das BVerfG in der PSPP-Entscheidung v 5.5.20 (BVerfG NJW 20, 1647) die Anleihekäufe der EZB und damit zugleich die Rspr des EuGH als ultra vires beanstandet. Das hat eine große Kontroverse ausgelöst (Hellwig NJW 20, 2497; Honsell/Roth ZIP 20, 1451; Kirchhof NJW 20, 2057 und JZ 22, 1049; Mayer JZ 20, 725; Nettesheim NJW 20, 1631; Schorkopf JZ 20, 734). Die unmittelbar geltenden Normen des Unionsrechts stehen im Rang auch über dem GG. Für das richtige Verständnis des Unionsrechts sind die Textfassungen aller Amtssprachen gleichrangig zu berücksichtigen und autonom auszulegen (s.u. Rn 35). Im Hinblick auf den Geltungsbereich und die Anwendung der in der EuGrundrechte-Charta enthaltenen Grundrechte hat der EuGH in der Akerberg Fransson-Entscheidung (v 26.2.13, NJW 13, 1415) festgestellt, dass in allen Fällen der Anwendbarkeit des Unionsrechts zugleich auch die durch die Charta garantierten Grundrechte anwendbar sind (vgl Rabe NJW 13, 1407). Die früher geäußerte Sorge, dass der europäische Grundrechtsschutz dem deutschen Standard nicht voll entspreche (BVerfGE 37, 271, 280; BVerfGE 73, 339, 378; BVerfGE 140, 317, 336), ist seit der GRCh (rechtsverbindlich seit 1.12.09) überholt. Neuerdings kann man beobachten, dass der europäische Grundrechtsschutz über die Anforderungen des BVerfG hinausgeht (Classen JZ 19, 1057). Das BVerfG ist in jüngster Zeit bemüht, die Kontroverse mit dem EuGH zurückzudrehen (BVerfG v 6.12.22 2 BvR 547/21, juris).

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