Rn 113

Der Umfang der Verkehrspflichten ist stark einzelfallabhängig. Zu seiner Konkretisierung ist zwischen den Interessen des Sicherungspflichtigen, der Gefährdeten – unter Berücksichtigung ihrer Grundrechte (dazu insb BVerfG NJW 16, 3013 Rz 11) – und den Interessen der Allgemeinheit abzuwägen, wobei zu berücksichtigen ist, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann (BGH BeckRS 19, 18159 Rz 14; 18917 Rz 5; VersR 21, 452 Rz 25 mwN). Den drei genannten Bereichen lassen sich alle Kriterien zuordnen, die – in unterschiedlichen Varianten – als für den Umfang von Verkehrspflichten relevant angesehen werden (zB Staud/J Hager § 823 Rz E 25 ff; Soergel/Krause § 823 Anh II Rz 27 ff; MüKo/Wagner § 823 Rz 475 ff; weiterhin etwa Gerecke VersR 08, 1595). Allerdings bestehen Wechselwirkungen, die sich insb in den häufig verwendeten Kriterien ›Zumutbarkeit‹ (von Sicherungsmaßnahmen) und ›Vertrauen‹ (des Gefährdeten in derartige Vorkehrungen) widerspiegeln. Beide übergreifen letztlich alle drei Bereiche; so hängt die Zumutbarkeit zB auch vom Grad der Gefährdung anderer ab und das Vertrauen von der praktischen Möglichkeit von Sicherungsmaßnahmen. Da sich beide Kriterien wechselseitig beeinflussen, können sie nur Leitlinien sein, die durch eine Reihe von Indizien konkretisiert werden (zutr insb Soergel/Spickhoff § 823 Rz 9: Herausarbeitung bestimmter Verantwortungsbereiche und einer damit verbundenen Zuständigkeitsverteilung).

aa) Sicherungspflichtiger.

 

Rn 114

Auf Seiten des Sicherungspflichtigen sind zunächst die faktischen und rechtlichen Möglichkeiten von Sicherungsmaßnahmen sowie ihre Zumutbarkeit zu berücksichtigen (zB BGH VersR 75, 812 mwN; BGHZ 108, 273, 274; NJW 00, 1946 f; 07, 762 Rz 11; 10, 1967 Rz 6; VersR 14, 78 Rz 14; 642 Rz 9 mwN). Die Rspr bezieht bei der Frage der Zumutbarkeit zunehmend wirtschaftliche Gesichtspunkte mit ein (zB BGH VersR 57, 584; NJW-RR 87, 147 [BGH 30.09.1986 - VI ZR 274/85]; NJW 90, 906, 907 [BGH 17.10.1989 - VI ZR 258/88]; 95, 2631, 2632; 07, 762 [BGH 31.10.2006 - VI ZR 223/05] Rz 11 ff, dazu insb Rothe NJW 07, 740 ff). Allgemeine Regeln lassen sich aus diesen Entscheidungen zu ganz unterschiedlichen Pflichtenbereichen jedoch bisher kaum ableiten. Die Zumutbarkeitsgrenze dürfte ua danach zu bestimmen sein, ob noch weitere Personen für die Sicherung der Gefahrenquelle verantwortlich sind und wie wahrscheinlich der Gefahreintritt ist. Der Sicherungspflichtige hat diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren (BGH NJW 06, 2326 [BGH 16.05.2006 - VI ZR 189/05]; 08, 3775 [BGH 03.06.2008 - VI ZR 223/07] Rz 9; 3778 Rz 10; 10, 1967 Rz 6); auf offenkundige Gefahren muss er hingegen nicht hinweisen (zB Celle OLGR 06, 83), das ist iE eine Ausprägung des Vertrauensgrundsatzes.

 

Rn 115

Eine wichtige Rolle spielen daneben die Kosten der Sicherungsmaßnahmen (MüKo/Wagner § 823 Rz 478; Erman/Wilhelmi § 823 Rz 81a; krit BGH NJW 06, 610 [BGH 08.11.2005 - VI ZR 332/04] Rz 23). Sie sollten aber nur iVm anderen ökonomischen Aspekten (zB ökonomischem Nutzen der gefahrbringenden Tätigkeit für die Allgemeinheit oder Art und Ausmaß des drohenden Schadens) herangezogen werden, so dass hier letztlich die allg ökonomischen Erwägungen zur Fahrlässigkeitshaftung (Vor § 823 Rn 18) zum Tragen kommen. Die finanzielle Belastbarkeit des Sicherungspflichtigen ist in diesem Zusammenhang allerdings von untergeordneter Bedeutung (BGH NJW 84, 801, 802 [BGH 29.11.1983 - VI ZR 137/82]) und auch die Möglichkeit eines Versicherungsschutzes stellt nur einen von mehreren zu berücksichtigenden Teilaspekten dar, ggü dem der Schutz des Betroffenen Vorrang hat. Die Kostenfrage steht in Wechselwirkung mit Umfang und Wahrscheinlichkeit des drohenden Schadens (dazu zB RGZ 147, 353, 356; BGH NJW 71, 1313, 1314 mwN; Saarbr OLGR 06, 766, 768).

 

Rn 116

Öffentlich-rechtliche Sicherheitsstandards können idR lediglich Mindestanforderungen für Sicherungsmaßnahmen darstellen; die Verkehrspflichten können (müssen aber nicht) darüber hinausgehen (zB BGHZ 79, 83; 139, 43, 46 f; NJW 04, 1449, 1450; 08, 3775 Rz 18; 3778 Rz 16, jew mwN; NJW-RR 11, 888 Rz 12 ff; zu Einzelheiten insb MüKo/Wagner § 823 Rz 497 ff mwN; krit Treffer JR 22, 503, 509 f).

 

Rn 117

In geringem Umfang spielen auch Vorkehrungen gegen Fehlverhalten oder Missbrauch durch Dritte auf Seiten des Sicherungspflichtigen eine Rolle (BGHZ 37, 165, 170; NJW 90, 1236 f mwN; Grenze: zB BGH NJW 97, 660, 661; s.a. MüKo/Wagner § 823 Rz 484 ff mwN).

 

Rn 118

Die spätere Entschärfung einer Gefahrenstelle ist nicht als Anerkenntnis einer Verkehrssicherungspflicht zu werten (Jena NJW 06, 624 [OLG Jena 06.10.2005 - 4 U 882/05]). Eine Nachrüstungspflicht für technische Anlagen bei Verschärfung von Sicherheitsbestimmungen richtet sich danach, ob sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Gefahr ergibt, dass ohne die Nachrüstung Rechtsgüter anderer verletzt werden...

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