Rn 24

Lange Zeit war die Frage, ob der Richter seiner Überzeugung eine sehr hohe oder lediglich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit zugrunde legen muss, äußerst umstr. Unter dem Einfluss des anglo-amerikanischen und des skandinavischen Rechts sind die Befürworter des sog Überwiegensprinzips davon ausgegangen, dass eine Tatsache schon dann als bewiesen gelten kann, wenn ihr Vorliegen wahrscheinlicher ist als ihr Nichtvorliegen (Kegel FG Kronstein, 67, 321 ff; Motsch S 37 ff; nunmehr auch Schweizer S 486 ff; einschr Effer-Uhe ZZP 133, 339, 352 ff; weitere Nachweise bei Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 5 Rz 8). Diese Lehre hat sich zu Recht nicht durchsetzen können (vgl BGH NJW 98, 1870 [BGH 09.02.1998 - II ZB 15/97]; NJW 12, 850 [BGH 07.02.2012 - VI ZR 63/11] Rz 10; Baumgärtel/Laumen Bd 1 Kap 5 Rz 10 ff mwN). Gegen sie spricht bereits der Wortlaut des § 286 I, wonach für die Überzeugungsbildung entscheidend darauf abzustellen ist, ob eine tatsächliche Behauptung ›für wahr oder nicht für wahr zu erachten sei‹ und nicht, ob eine Behauptung wahrscheinlich wahr oder wahrscheinlicher ist als eine andere. Damit stellt der Gesetzgeber als Regelbeweismaß auf die volle Überzeugung von der Wahrheit ab. Auch der Gegensatz zwischen § 286 I einerseits und § 287 sowie § 294 andererseits lässt sich nur damit erklären, dass der Richter nach dem Willen des Gesetzgebers im Normalfall nicht schon die Tatsachen seiner Entscheidung zugrunde lagen darf, für deren Richtigkeit nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht (MüKoZPO/Prütting Rz 36). Nur so lassen sich auch die zahlreichen Normen erklären, die in Abweichung von diesem Regelbeweismaß die Anforderungen an dieses Beweismaß absenken (vgl die Aufstellung bei Prütting S 80 ff; s ferner unten Rn 25). Das Überwiegensprinzip würde zudem das gesetzliche System der Beweislastverteilung weitgehend verdrängen und damit den Gerechtigkeitswert von Beweislastregeln (dazu Katzenmeier ZZP 117, 187, 213) außer Acht lassen. Auf der anderen Seite erfordert die Überzeugung keine mathematische, jeden Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewissheit, weil eine solche ohnehin nicht zu erreichen ist (BGH NJW 98, 2969, 2971 [BGH 18.06.1998 - IX ZR 311/95]). Für eine behauptete Tatsache muss deshalb mit der ganz hM (St/J/Thole Rz 4 ff mwN) eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit sprechen, damit der Richter sie für wahr erachten und seiner Entscheidung zugrunde legen kann (sog Vollbeweis, s § 284 Rn 16).

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