Leitsatz (amtlich)

Wurden einem Versicherungsnehmer bei Vertragsschluss komplexe Gesundheitsfragen so schnell vorgelesen, dass ihre richtige Erfassung nicht gewährleistet war, kann eine unvollständige Antwort nicht Grundlage einer Anfechtung wegen arglistiger Täuschung oder eines Rücktritts vom Versicherungsvertrag sein.

 

Normenkette

VVG a.F. §§ 16, 22; BGB § 123

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Urteil vom 30.06.2011; Aktenzeichen 22 O 627/10)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des LG Stuttgart vom 30.6.2011 - Az. 22 O 627/10 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass die Rentenversicherung nebst Todesfall- und Berufsunfähigkeitsschutz, welche die Beklagte unter der Versicherungsnummer 300 266 807 führt, nicht durch deren Erklärung vom 13.5.2008 beendet oder geändert wurde, sondern darüber hinaus zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.

2. Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen trägt die Beklagte.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Berufungsstreitwert: bis 13.000 EUR

 

Gründe

I. Die Klägerin verfolgt in der Berufung ihre in erster Instanz abgewiesene Klage auf Feststellung des Fortbestehens einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung weiter.

Am 16.8.2004 stellte die Klägerin bei der Versicherungsvertreterin S. B., die bei der Hauptvertretung A. M. der Beklagten beschäftigt war, einen Antrag auf Abschluss einer Rentenversicherung mit Todesfallschutz und Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (Anlage K 1, Bl. 9). Für den Fall der Berufsunfähigkeit war neben der Beitragsbefreiung für die Rentenversicherung auch eine monatliche Rente i.H.v. 400 EUR vorgesehen.

Das Antragsformular enthielt unter der Überschrift "Gesundheitserklärung der zu versichernden Person" mehrere Fragen zum Gesundheitszustand. Der schriftliche Fragenkatalog wurde von der Vermittlerin B. im Beisein der Klägerin ausgefüllt. Eine der Fragen lautete:

"Haben oder hatten Sie in den letzten 5 Jahren Beschwerden, Störungen, Krankheiten oder Vergiftungen? (z.B. Herz oder Kreislauf, Atmungs-, Verdauungs-, Harn- oder Geschlechtsorgane, Nerven, Rückenmark, Gehirn, Psyche, Sucht, Augen, Ohren, Haut, Allergien, Drüsen, Schilddrüse, Milz, Blut, Infektionskrankheiten, Tumore, Stoffwechsel, Gicht, Blutfette, Diabetes, Bewegungsapparat, Wirbelsäule, Knochen, Gelenke, Rheuma)"

Diese Frage wurde in dem Antrag mit "Nein" beantwortet. Ebenso wurden die weiteren Fragen verneint mit Ausnahme der Frage "Haben Sie in den letzten 10 Jahren Unfälle, Verletzungen erlitten?", die mit "Ja" beantwortet wurde. In dem hierfür vorgesehenen Ergänzungsfeld wurde eine Verletzung am Fuß ("eine Kuh stand auf einem Zeh") sowie eine Krampfaderentfernung am linken Bein angegeben. Den Antrag unterzeichnete die Klägerin mit ihrer Unterschrift.

Zudem unterschrieb die Klägerin mit gleichem Datum eine ergänzende "Erklärung der zu versichernden Person" (Bl. 16). Die dort enthaltene Frage "Welche Medikamente nahmen oder nehmen Sie ein?" wurde mit "Keine" beantwortet. Die Frage "Mussten Sie Fachärzte (z.B. Orthopäden, Röntgen- und Nervenärzte) oder Kliniken aufsuchen?" wurde mit "Nein" beantwortet.

Mit Schreiben vom 16.9.2004 übersandte die Beklagte der Klägerin drei weitere "Erklärungen der zu versichernden Person", die sich auf die landwirtschaftliche Tätigkeit der Klägerin, die als Tierwirtin tätig war, auf Beinerkrankungen sowie auf Unfälle bezogen (Anlage B 2, Bl. 62). In der Erklärung zur landwirtschaftlichen Tätigkeit war erneut die Frage nach einem Besuch bei Fachärzten oder Kliniken enthalten, die jedoch schriftlich nicht beantwortet wurde. Sämtliche Erklärungen unterzeichnete die Klägerin mit Datum vom 6.10.2004.

Nachdem die ergänzenden Erklärungen der Beklagten zugegangen waren, nahm diese den Antrag der Klägerin an und fertigte den Versicherungsschein Nr. 300 ... aus. Der Versicherung lagen u.a. die "Besondere Bedingungen für die Bausteine zur Berufsunfähigkeitsvorsorge: Beitragsbefreiung und Berufsunfähigkeitsrente E 5" (Anlage B 1, Bl. 46) zugrunde.

Tatsächlich befand sich die Klägerin wegen einer Depression und des Verdachts auf Schizophrenie von Juli 1998 bis März 2002 in Behandlung bei der Nervenärztin Frau Dr. W.. In diesem Zeitraum fanden ca. 17 Behandlungstermine statt, wobei die Klägerin nach anfänglich kürzeren Intervallen ab dem Jahr 1999 etwa vierteljährlich Termine bei Frau Dr. W. wahrnahm. Während des gesamten Zeitraums wurde die Klägerin medikamentös behandelt. Ab dem Jahr 1999 bis zum Ende der Behandlung im März 2002 verschrieb Frau Dr. W. ihr ein Antidepressivum, das einmal täglich einzunehmen war.

Im März 2008 beanspruchte die Klägerin wegen Rückenproblemen Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung. Nachdem die Beklagte im Rahmen der Leistungsprüfung einen Behandlungsbericht von Frau Dr. W. (Anlage B 3, Bl. 69) erhalten hatte, erklärte sie mit Schreiben vom 13.5.2008 hinsichtlich der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung sowie den Rüc...

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