Leitsatz (amtlich)

1. Zu den elementaren Aufgaben einer Hebamme gehört es, Regelwidrigkeiten bei der Geburt zu erkennen und bei pathologischen Auffälligkeiten einen Arzt hinzuzuziehen.

2. Erfährt eine Hebamme, dass es bei der Schwangeren zu Blutungen gekommen ist, stellt es einen groben Befunderhebungsfehler dar, wenn sie zu spät die Vorlage kontrolliert.

3. Zur Höhe des Schmerzensgeldes bei schwersten Behinderungen nach einem Sauerstoffmangel unter der Geburt.

 

Normenkette

BGB § 253 Abs. 2, § 630h Abs. 5 S. 1, § 823 Abs. 1, § 831; ZPO § 308 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Rostock (Urteil vom 07.08.2013; Aktenzeichen 10 O 445/10)

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 12.09.2023; Aktenzeichen VI ZR 371/21)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 07.08.2013, Az. 10 O 445/10, abgeändert und wie folgt gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld i.H.v. 300.000,00 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.02.2011 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm infolge der fehlerhaften Behandlung vom 27.10.2007 entstehen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 1.466,08 EUR nebst 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 15.02.2011 für vorgerichtliche Anwaltsgebühren zu zahlen.

2. Die Beklagten tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwendet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf bis 125.000,00 EUR festgesetzt.

In Abänderung des Beschlusses des Landgerichts Rostock vom 13.08.2013, Az: 10 O 445/10, wird der Streitwert für die I. Instanz auf bis 125.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der am xx.10.2007 geborene Kläger macht gegen die Beklagten Ansprüche auf Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzpflicht von immateriellen und materiellen Zukunftsschäden im Zusammenhang mit seiner Geburt geltend. Die Beklagte zu 1) ist Trägerin des S.; die Beklagte zu 2) ist die dort angestellte Hebamme, die die Mutter des Klägers vor dessen Geburt betreut hat.

Streitig ist im wesentlichen, ob die Beklagte zu 2) verpflichtet war, bereits zu einem früheren Zeitpunkt die diensthabende Gynäkologin hinzuzuziehen und ob in diesem Fall die Indikation zur Durchführung eines Notkaiserschnittes früher gestellt worden wäre.

Die Mutter des Klägers, in der 40. Schwangerschaftswoche, traf am xx.10.2007 um 2:55 Uhr im S. ein. Weder über Wehen noch über Schmerzen klagend äußerte sie die Vermutung eines Blasensprungs mit Flüssigkeitsabgang. Weitere Angaben der Kindesmutter gegenüber der Beklagten zu 2) zum Zeitpunkt ihres Eintreffens in der Klinik sind zwischen den Parteien streitig. Um 2:57 Uhr legte die Beklagte zu 2) der Kindesmutter ein CTG an. Voruntersuchungen bzw. eine vaginale Untersuchung nahm sie nicht vor.

Das CTG zeigte leichte unregelmäßige Wehen und Auffälligkeiten mit Herztonabfällen. Wegen weiterhin bestehender Herztonabfälle rief die Beklagte zu 2) um 3:15 Uhr die Gynäkologin Dr. G. hinzu, die um 3:18 Uhr im Kreißsaal erschien. Die Kindesmutter gab gegenüber der Ärztin vaginale Blutungen an. Bei der vaginalen Untersuchung zeigte sich ein geschlossener Muttermund und eine Blutung ≫ Regelstärke. Nach einer Ultraschalluntersuchung löste Dr. G. wegen des Verdachts auf eine Plazentaablösung um 3:26 Uhr den Alarm für einen Notkaiserschnitt aus. Um 3:34 Uhr wurde der Kläger entbunden. Er litt unter einer Sauerstoffunterversorgung, hatte eine Herzfrequenz von 40/min und es lag ein akutes Nierenversagen vor. Nach erfolgter Reanimation wurde der Kläger drei Stunden nach seiner Geburt in die Universitätsklinik verlegt, wo er bis zum 14.11.2007 in stationärer Behandlung war. Nach Rückverlegung in das S. befand er sich dort bis zum 20.11.2007 in stationärer Behandlung. Der Umfang der Gesundheitsschäden des Klägers ist streitig.

Der Kläger hat behauptet, um ca. 2:20 Uhr sei es bei seiner Mutter zu einer Plazentaablösung gekommen, die zu starken Blutungen geführt habe, sowie zu einer Sauerstoffunterversorgung bei ihm. Seine Mutter habe gegen 2:24 Uhr die Hebamme, Frau S., angerufen und ihr ihre Situation mit starken Blutungen geschildert. Beim Eintreffen im Krankenhaus der Beklagten zu 1) habe sie auf starke Blutungen und auch darauf hingewiesen, dass sie nicht wisse, ob die Fruchtblase geplatzt sei. Sie habe mitgeteilt, viel Blut und Blutstücke verloren zu haben. Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Beklagte zu 2) habe auf Grund dies...

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