Leitsatz (amtlich)

Dem Beschuldigten ist auch dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn er zwar nur zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wird, ihm aber aufgrund der Verurteilung der Widerruf von insgesamt 18 Monaten Freiheitsstrafe aus anderen Verurteilungen droht.

 

Tenor

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Lüdenscheid zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten im angefochtenen Urteil "wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten" verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner (Sprung-) revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

Zur Begründung der formellen Rüge hat der Angeklagte ausgeführt, dass die Hauptverhandlung am 11. August 2000 ohne Verteidiger stattgefunden habe, obwohl die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig gewesen sei. Die Generalstaatsanwaltschaft hat keinen Antrag gestellt.

II.

Die Sprungrevision des Angeklagten ist zulässig und hat mit der formellen Rüge auch - zumindest vorläufigen - Erfolg.

Der Angeklagte macht mit seiner gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO in zulässiger Form begründeten Verfahrensrüge zu Recht den absoluten Revisionsgrund nach den §§ 140 Abs. 2, 338 Nr. 5 StPO geltend, weil die Hauptverhandlung gegen ihn ohne den Beistand eines Verteidigers und somit in Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat. Insoweit ist es unerheblich, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht (noch einmal) die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beantragt hat. Denn der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gilt auch dann, wenn die Voraussetzungen der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen, ein Verteidiger aber nicht bestellt worden ist (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. u. a. Senat in NStZ-RR 1998, 243 = StraFo 1998, 164, 269 mit weiteren Nachweisen).

Die Mitwirkung eines Verteidigers war in der Hauptverhandlung am 11. August 2000 - entgegen der Auffassung des Amtsgerichts im Beschluss vom 24. Juni 2000 - gem. § 140 Abs. 2 StPO notwendig. Nach dieser Vorschrift ist einem Angeklagten u. a. dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn dies wegen der "Schwere der Tat" geboten erscheint. Die "Schwere der Tat" beurteilt sich nach ständiger Rechtsprechung der Obergerichte (vgl. u. a. OLG Frankfurt StV 1995, 628 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; siehe auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl. , § 140 Rn. 23 f. ; sowie Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 2. Aufl. , Rn. 601 ff. ; die o. a. Senatsentscheidung und außerdem Senat in wistra 1997, 318) vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung, nämlich ob die zu erwartende Rechtsfolge einschneidend für den Angeklagten ist (vgl. u. a. Kleinknecht/Meyer-Goßner, a. a. O. ; siehe auch OLG Hamm StV 1993, 180; sowie u. a. noch die Beschlüsse des Senats vom 21. Februar 1995 - 2 Ss 136/95 - und vom 11. September 1995 - 2 Ss 1018/95). Daneben sind aber auch die Verteidigungsfähigkeit und sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu erwarten hat, von Bedeutung (vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Burhoff, a. a. O. , Rn. 603 f. und den o. a. Beschluss des Senats in wistra 1997, 318).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hätte hier dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden müssen. Zwar ist der Angeklagte (noch) nicht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr ohne Bewährung verurteilt worden, was nach wohl überwiegender Meinung in Rechtsprechung und Literatur, der auch die ständige Rechtsprechung des Senats entspricht (vgl. nur den bereits erwähnten Beschluss des Senats vom 21. Februar 1995), in der Regel ohne weiteres die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich gemacht hätte (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a. a. O. , § 140 Rn. 23 mit weiteren Nachweisen). Die übrigen zu berücksichtigenden Umstände wiegen vorliegend jedoch derart schwer, dass, obwohl eine "nur" 6-monatige Freiheitsstrafe gegen den Angeklagten festgesetzt worden ist, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich war. Insoweit übersieht der Senat nicht, dass es sich bei der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat um eine zumindest rechtlich einfache Diebstahlstat gehandelt hat. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch, dass dem Angeklagten in drei anderen Verfahren wegen der hier abgeurteilten Taten der Widerruf von Strafaussetzungen zur Bewährung droht. Dabei handelt es sich einmal um die durch Urteil des AG Herford vom 25. 10. 1995 festgesetzten Freiheitsstrafe von 7 Monaten, bei der die Bewährungszeit bis zum 5. September 2000 verlängert worden ist, sowie um die durch Urteil des Amtsgericht Gütersloh festgesetzte Freiheitsstrafe von 7 Monaten, bei der die Bewährungszeit noch bis zum 16. Oktober 2001 läuft, sowie schließlich um eine Verurteilung durch ...

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