Leitsatz (amtlich)

Die unterbliebene Verlesung des Anklagesatzes führt, auch wenn das Verfahren rechtlich und tatsächlich einfach gelagert ist, jedenfalls dann zur Aufhebung, wenn nicht angenommen werden kann, dass der ausländsiche Angeklagte bereits vor der Hauptverhandlung hinreichende Kenntnis vom Anklagevorwurf hatte, weil ihm ggf. die Anklageschrift nicht in übersetzter Form zugestellt worden sind.

 

Verfahrensgang

AG Bottrop (Entscheidung vom 15.03.2002)

 

Tenor

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bottrop zurückverwiesen.

 

Gründe

Das Jugendschöffengericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls in sieben Fällen, davon in zwei Fällen wegen Diebstahls geringwertiger Sachen und in drei Fällen wegen gemeinschaftlich begangenen Diebstahls, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Nach den Feststellungen des Jugendschöffengerichts entwendete der Angeklagte am 27. September 2000, 4. Oktober 2000, 16. Oktober 2000, 16. Mai 2001 und 21. Mai 2001 in verschiedenen Kaufhäusern eine Anzahl von Gegenständen (Anklage der StA Essen vom 19. Oktober 2001 - 65 Js 1480/01). Darüber hinaus entwendete der Angeklagte am 10. 09. 2001 (Anklage der StA Essen vom 11. November 2001 - 65 Js 1902/01) und am 15. September 2001 (Anklage der StA Essen vom 15. Januar 2002 - 65 24/02) jeweils Spirituosen. Eine Reifeverzögerung des Angeklagten, der zur Tatzeit Heranwachsender war, hat das Jugendschöffengericht verneint und Erwachsenenstrafrecht angewendet.

Gegen das Urteil des Jugendschöffengerichts Bottrop richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

Die Revision des Angeklagten hat mit der ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge Erfolg, dass die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen vom 5. Januar 2002 nicht in der Hauptverhandlung verlesen worden ist.

Das Protokoll über die Hauptverhandlung weist aus, dass die Anklage der Staatsanwaltschaft Essen vom 5. Januar 2002 (65 Js 24/02) nicht verlesen worden ist. Das Protokoll vermerkt lediglich:

"Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz aus der Anklageschrift vom 19. 10. 01, 10. 11. 01. "

Die Verlesung des Anklagesatzes gehört zur wesentlichen Förmlichkeit i. S. v. § 273 Abs. 1 StPO, deren Einhaltung gemäß § 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl. , § 274 Rdnr. 14). Das Unterlassen der Verlesung des Anklagesatzes ist ein Revisionsgrund, der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt, es sei denn, dass ausnahmsweise ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH NStZ 82, 431;  86, 39;  95, 200)dann der Fall, wenn wegen der Einfachheit der Sach- und Rechtslage weder der Gang der Hauptverhandlung noch das Urteil irgendwie von dem Verfahrensfehler berührt worden ist oder wenn die Prozessbeteiligten über den Gegenstand des Verfahrens auf andere Weise unterrichtet sind. Zwar handelt es sich bei dem in der Anklageschrift vom 25. Januar 2002 angeklagten Tatgeschehen um einen rechtlich und tatsächlich einfach gelagerten Fall, dessen Begehung der Angeklagte den Urteilsfeststellungen zufolge eingestanden hat, doch kann gleichwohl nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil von dem Verfahrensmangel beeinflusst worden ist. Es kann nämlich nicht angenommen werden, dass der Angeklagte bereits vor der Hauptverhandlung hinreichende Kenntnis vom Anklagevorwurf hatte. Der Angeklagte ist russischer Staatsbürger und der deutschen Sprache (zumindest) nicht hinreichend mächtig. In der Hauptverhandlung war zwar ein Dolmetscher für die russische Sprache anwesend. Der Anklagesatz ist dem Angeklagten jedoch nicht erst in der Hauptverhandlung in einer ihm verständlichen Sprache bekanntzugeben. Beherrscht er die deutsche Sprache nicht hinreichend, so muss ihm neben der Anklageschrift eine schriftliche Übersetzung in seiner Muttersprache oder einer anderen Sprache, die er versteht, übersandt werden (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl. , Art. 6 MRK Rdnr. 18 m. w. N. ). Dem Angeklagten ist jedoch keine der drei Anklageschriften vor der Hauptverhandlung als Übersetzung in russischer Sprache zugesandt worden, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass er mit den Anklagevorwürfen erstmals in der Hauptverhandlung in ihm verständlicher Form konfrontiert worden ist. Mithin war der Angeklagte, dem in der Hauptverhandlung kein Verteidiger zur Seite stand, in seinen Verteidigungsmöglichkeiten, insbesondere was die Vorbereitung auf die Hauptverhandlung betrifft, erheblich eingeschränkt mit der Folge, dass das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler nicht ausgeschlossen werden kann.

Auch die Rüge gemäß § 338 Nr. 8 StPO hat Erfolg, denn die Verteidi...

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