Entscheidungsstichwort (Thema)

Entschädigungsanspruch einer Person nicht-binärer Geschlechtszugehörigkeit

 

Normenkette

AGG §§ 3, 19, 23

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Urteil vom 03.12.2020; Aktenzeichen 2-13 O 131/20)

LG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 11.08.2020; Aktenzeichen 2-13 O 131/20)

 

Tenor

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Auf die Berufungen der Beklagten und der klagenden Person werden das Teil-Versäumnisurteil der 13. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 11.08.2020 und das Schlussurteil der 13. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 03.12.2020 teilweise aufgehoben und abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

1) Die Beklagte wird verurteilt, an die klagende Person 1.000 EUR zu zahlen nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2020.

2a) Die Beklagte wird verurteilt, es ab dem 01.01.2023 zu unterlassen, die klagende Person bei der Anbahnung, dem Abschluss und der Abwicklung eines Dienstleistungs- oder Beförderungsvertrags dadurch zu diskriminieren, dass

die klagende Person bei der Nutzung von Angeboten der Beklagten zwingend eine Anrede als Herr oder Frau angeben muss.

2b) Die Beklagte wird verurteilt, es zu unterlassen, die klagende Person bei der Anbahnung, dem Abschluss und der Abwicklung eines Dienstleistungs- oder Beförderungsvertrags dadurch zu diskriminieren, dass

die klagende Person bei der Ausstellung von Fahrkarten, Schreiben des Kundenservice, Rechnungen sowie begleitender Werbung und in der Verwaltung dafür gespeicherter personenbezogener Daten als Frau oder Herr bezeichnet wird.

3) Der Beklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die in Ziff. 2 enthaltenen Unterlassungsverpflichtungen die Verhängung eines Ordnungsgeldes bis zu 250.000 EUR, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten angedroht.

4) Die Beklagte wird verurteilt, die klagende Person von den Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung der Rechtsanwaltskanzlei A in Stadt1 in Höhe von 492,54 EUR freizustellen.

5) Im Übrigen wird das Versäumnisurteil der 13. Zivilkammer vom 11.08.2020 aufrechterhalten und die Klage darüber hinaus abgewiesen.

6) Die weitergehende Berufung der Beklagten und die weitergehende Berufung der klagenden Person werden zurückgewiesen.

7) Von den Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen haben die Parteien jeweils 50% zu tragen. Hiervon ausgenommen sind die durch die Säumnis der Beklagten verursachten Kosten, die die Beklagte zu tragen hat.

8) Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

9) Gegenstandswert für das Berufungsverfahren: 10.000 EUR

 

Gründe

I. Die klagende Person besitzt eine nicht-binäre Geschlechtsidentität. Eine Personenstandsänderung hat nicht stattgefunden, so dass in der Geburtsurkunde eine binäre Geschlechtsangabe enthalten sowie als Vorname B eingetragen ist.

Am 16.10.2019 besuchte die klagende Person den Internetauftritt der Beklagten, einer Vertriebstochter des größten deutschen Eisenbahnkonzerns, um online eine Fahrkarte zu erwerben. Voraussetzung hierfür ist, dass die Anrede "Herr" oder "Frau" ausgewählt wird. Der Erwerb einer Fahrkarte ohne diese Angabe ist online nicht möglich, die Geschlechtsbezeichnung "Herr" oder "Frau" findet sich auf der Fahrkarte. Ebenso erfordert die Registrierung als Kunde über den Internetauftritt der Beklagten zwingend die Auswahl der Anrede "Herr" oder "Frau", entsprechend erfolgt die Ansprache von Kunden in der Kommunikation.

Fahrscheine können an Automaten und in Geschäften der Beklagten sowie bei Dritten ohne Geschlechtsangabe erworben werden.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 10.12.2019 forderte die klagende Person die Beklagte zu einer Unterlassungserklärung und Zahlung einer Geldentschädigung auf (Anlage K 12).

Nach Kauf einer BahnCard wurde die klagende Person in der ihr von der Beklagten zugesandten Rechnung vom 12.03.2020 als "Herr" angesprochen.

Die klagende Person ist der Auffassung, die im Vergleich zu binären Geschlechtern schlechtere Behandlung im Rahmen des Abschlusses und der Abwicklung eines Massengeschäfts stelle eine Benachteiligung dar, für welche ein sachlicher Grund nicht gegeben sei. Damit liege ein Verstoß der Beklagten gegen § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG vor. Der persönliche Schutzbereich des AGG greife unabhängig vom Personenstandseintrag. Der sachliche Schutzbereich des Gesetzes umfasse auch die Vertragsanbahnung. Die Belastungen durch die Diskriminierung seien bei der klagenden Person erheblich. Die Benennung der Geschlechtsidentität sei Teil der Intimsphäre. Der Zwang zur Falschangabe führe zu einem Dilemma: Lüge oder Selbstverleugnung. Das Schmerzensgeld nach dem AGG sei nach europarechtlichen Maßstäben zu bewerten und müsse einen abschreckenden Charakter aufweisen. Eines Verschuldens für eine Haftung der Beklagten aus § 21 AGG bedürfe es nicht, dieses Erfordernis sei europarechtswidrig; im Übrigen liege jedoch Fahrlässigkeit vor.

Die klagende Person hat beantragt:

1) Die Beklagte wird verurteilt, an die klagende Person wegen ein...

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