Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendbarkeit der §§ 198, 199 GVG bei Altverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

Die Anhängigkeit einer Beschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte genügt in sog. Altverfahren nicht den Anforderungen an Art. 23 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, wenn die Beschwerde erst nach Ablauf der in Art. 35 EMRK benannten Frist erhoben worden ist.

 

Normenkette

GVG §§ 198-199; EMRK Art. 35

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 11.07.2013; Aktenzeichen III ZR 361/12)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird gestattet, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, soweit nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von dem Beklagten Entschädigung wegen überlanger Dauer eines gegen ihn gerichteten Strafverfahrens. Gegen den Antragsteller wurde von Seiten der Staatsanwaltschaft ... aufgrund einer Strafanzeige vom 4.1.1994 strafrechtlich wegen Betruges ermittelt (Az ...). Das Verfahren wurde am 13.8.2002 gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Vor dem LG ... und dem OLG ... hat der Kläger von 2006 bis 2010 erfolglos einen Amtshaftungsrechtsstreit gegen das beklagte Land geführt. Seine gegen diese Klagabweisung erhobene Verfassungsbeschwerde vom 7.2.2011 wurde vom BVerfG durch Beschluss vom 5.5.2011, zugestellt am 13.5.2011, nicht zur Entscheidung angenommen. Kurz vor In-Kraft-Treten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, nämlich am 11.11.2011, hat der Kläger Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht.

Der Kläger beantragt, das Land ... zu einer angemessenen Entschädigung, mindestens jedoch 5.000 EUR nebst Zinsen zu verurteilen und durch Versäumnisurteil zu entscheiden.

Der Beklagte hat schriftsätzlich angekündigt, Antrag auf Klageabweisung stellen zu wollen, ist aber im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht aufgetreten.

Wegen des weiter gehenden Sach- und Streitstandes wird auf die von den Parteien eingereichten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Das klägerische Vorbringen ist bereits unschlüssig.

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Entschädigung für die Dauer des gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens aus § 199 i.V.m. § 198 GVG nicht zu. Diese Anspruchsgrundlage kommt gem. Art. 23 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zwar auch bei im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes am 3.12.2011 bereits abgeschlossenen Verfahren in Betracht. Voraussetzung ist jedoch, dass die Dauer des Verfahrens beim In-Kraft-Treten des Gesetzes Gegenstand einer anhängigen Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) war oder noch werden konnte. Rein formal hätte der Kläger zwar durch Erhebung einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am 11.11.2011 diese Voraussetzung erfüllt. Sinn der Übergangsvorschrift des Art. 23 war es jedoch nach dem gesetzgeberischen Willen, weitere Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern und den EGMR zu entlasten (vgl. BT-Drucks. 17/3802, 31). Erkennbar sollten demnach die Altverfahren aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausfallen, bei denen eine Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland auch nach der vor In-Kraft-Treten des Gesetzes geltenden Rechtslage durch den EGMR ausgeschlossen war. So heißt es auch in der Gesetzesbegründung (a.a.O.), dass aufgrund der Beschwerdefrist des Art. 35 Abs. 1 EMRK, die sechs Monate beträgt, der Verfahrens-abschluss nicht länger als sechs Monate zurückliegen dürfe. Das nationale Verfahren gegen den Kläger ist jedoch bereits 2002 abgeschlossen worden. Indem der Kläger nunmehr kurz vor In-Kraft-Treten des Gesetzes eine Beschwerde zum EGMR erhoben hat, also zu einem Zeitpunkt, als diese aufgrund offensichtlicher Nichteinhaltung der Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK unzulässig war, würde der Sinn der Regelung des Art. 23 verkannt, reichte allein die förmliche Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 23 bei eklatanter Verfristung der Anrufung des EGMR zur Eröffnung des Anwendungsbereichs der §§ 198 f. GVG aus. Insoweit muss Art. 23 des Gesetzes seinem Sinne nach ausgelegt und so verstanden werden, dass eine anhängige Beschwerde beim EGMR nur dann den Anwendungsbereich der §§ 198 f. GVG eröffnet, wenn sie unter Beachtung der Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK erhoben worden ist. Der Abschluss des nationalen Strafverfahrens im Jahr 2002 stellt auch den maßgeblichen Zeitpunkt für den Fristbeginn dar. Auf einen späteren Zeitpunkt, nämlich die Abweisung einer auf nation...

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