Entscheidungsstichwort (Thema)

Leibesfrucht. Nasciturus

 

Leitsatz (amtlich)

Einen Anspruch auf Entschädigung in entsprechender Anwendung des § 555 a RVO hat, wer bei dem Eintritt des Versicherungsfalles der Berufskrankheit (BK) seiner Mutter noch nicht gezeugt war, aber während der späteren Schwangerschaft mit der BK infiziert worden ist.

Der Geburtsvorgang gehört noch zur Schwangerschaft i.S. des § 555 a RVO.

 

Normenkette

RVO § 555a

 

Verfahrensgang

SG Mainz (Urteil vom 09.12.1982; Aktenzeichen S 3 U 143/81)

 

Tenor

1. Das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 9. Dezember 1982 – Az.: S 3 U 143/81 – und der Bescheid des Beklagten vom 24. Juli 1981 werden aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, bei der Klägerin als Berufskrankheit eine Hepatitis B anzuerkennen und bestimmungsgemäß zu entschädigen.

2. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin einen Anspruch auf Versicherungsleistungen aus § 555 a Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.

Die Mutter der Klägerin infizierte sich im Frühjahr 1973 bei ihrer Tätigkeit als Krankenschwester in der Chirurgischen Universitäts-Poliklinik in M. mit einer Gelbsucht (Australia-Antigen B). Mit Bescheid vom 25. November 1974 erkannte der Beklagte eine chronisch-persistierende Virushepatitis B als Berufskrankheit an und gewährte ihr nach einem Versicherungsfall vom 25. Januar 1974 eine Verletztenrente.

Am … 1975 wurde die Klägerin geboren. Bereits im Säuglingsalter zeigten sich bei ihr, wie dies auch bei ihrer am … 1973 geborenen Schwester B. der Fall gewesen war, erhöhte Serumtransaminasenwerte und ein positiver HBsAG-Befund. Im Alter von etwa drei Jahren wurde durch Blindpunktion und histologische Untersuchung des Lebergewebes eine Hepatitis festgestellt.

Im Februar 1981 erstellte der Oberarzt der Kinderklinik der Johannes Gutenberg-Universitat in M. Prof. Dr. B. ein Zusammenhangsgutachten, in dem er schreibt, zum Zeitpunkt der Geburt der Klägerin sei die Hepatitis ihrer Mutter mit Sicherheit infektiös gewesen. Es sei daher davon auszugehen, daß die Gelbsucht der Klägerin auf die anerkannte Berufskrankheit ihrer Mutter zurückgehe. Die MdE betrage zur Zeit 15 %. Die Hepatitis sei mit allergrößter Wahrscheinlichkeit während des Geburtsvorganges übertragen worden. Eine Infektion während der Schwangerschaft durch die Nabelschnur oder unmittelbar nach der Geburt durch intensiven Kontakt zwischen Mutter und Kind sei weniger wahrscheinlich.

Mit Bescheid vom 24. Juli 1981 lehnte es der Beklagte ab, die Klägerin zu entschädigen: Nach der Entstehungsgeschichte des § 555 a RVO und seinem Wortlaut sei der Nasciturus nur dann versichert, wenn er bereits vor dem Arbeitsunfall oder dem Beginn der Berufskrankheit der Mutter gezeugt worden sei. Diese Voraussetzung liege nicht vor. Weiterhin sei die Klägerin nicht als Leibesfrucht geschädigt worden, denn nach Auffassung des Gutachters Prof. Dr. B. habe sie sich während des Geburtsvorganges infiziert. Zu dieser Zeit sei sie jedoch nicht mehr Leibesfrucht im Sinne des § 555 a RVO gewesen.

Das Sozialgericht Mainz hat mit Urteil vom 9. Dezember 1982 die rechtzeitig erhobene Klage als unbegründet abgewiesen: Nach § 555 a RVO werde nur geschützt, wer durch einen Arbeitsunfall der Mutter während der Schwangerschaft geschädigt worden sei. Aus dem im Unfallversicherungsrecht geltenden Kausalitätsprinzip ergebe sich, daß der Gesetzgeber nicht spätere Schädigungen als mittelbare Folgen des Arbeitsunfalles habe einbeziehen wollen. Dies entspreche dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1977, der sich nur auf die Fälle beziehe, in denen das geschädigte Kind schon vor dem Arbeitsunfall oder vor dem Eintritt der Berufskrankheit der Mutter erzeugt gewesen sei. Nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts solle § 555 a RVO die mit dem Arbeitsleben in der Industriegesellschaft zwangsläufig verbundenen Risiken entschädigen. Als der Versicherungsfall bei der Mutter eingetreten sei, habe jedoch die durch die biologische Einheit von Mutter und Leibesfrucht während des Versicherungsfalles bestehende, den Versicherungsschutz des Nasciturus begründende gemeinsame Gefahrenlage noch nicht vorgelegen. Jemanden dem Versicherungsschutz des § 555 a RVO zu unterstellen, der zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls der Mutter noch nicht gezeugt gewesen sei, hieße, entgegen den Grundsätzen des Unfallversicherungsrechts einen Folgeunfall oder eine mittelbare Schädigung versichern.

Gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz hat die Klägerin rechtzeitig Berufung eingelegt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 9. Dezember 1982 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr eine Hepatitis B als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der beigeladene Gemeindeunfallversicherungsverband stellt keinen Sachantrag.

Er trägt vor, der Gesetzgeb...

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