Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Verbrechen ohne Leiche. plötzliches Verschwinden des Primäropfers. Traumatisierung der Mutter des Opfers. Sekundäropfer. personale Nähe. Fehlen einer unmittelbaren Todesnachricht. allmähliches Gewahrwerden eines Tötungsdelikts. keine Gewaltopferentschädigung

 

Orientierungssatz

1. Für ein Sekundäropfer (hier: Mutter des Opfers), welches nicht in zeitlicher oder örtlicher, sondern nur in personaler Nähe zum tätlichen Angriff steht, scheidet eine Gewaltopferentschädigung nach § 1 OEG aus, wenn es keine unmittelbare Todesnachricht erhalten hat und es sich (hier: bei einem Verbrechen ohne Leiche) erst allmählich über einen längeren Zeitraum gewahr geworden ist, dass die ihm nahestehende Person das Opfer eines tätlichen Angriffs wurde.

2. Bei der Nachricht, dass eine - erwachsene - Person verschwunden ist, handelt es sich nicht um die Nachricht über eine Gewalttat im Sinne von § 1 OEG.

3. Sofern es viele Möglichkeiten für das Verschwinden einer Person gibt (zB Unfall, Selbstmord, Kontaktabbruch), sind die Folgen beim Sekundäropfer nicht mehr durch eine Gewalttat vermittelt und durch den Schutzbereich des OEG erfasst (vgl LSG Halle vom 20.4.2017 - L 7 VE 3/14 = Breith 2017, 937).

4. Nur im (hier nicht vorliegenden) Fall des späteren Auffindens der Leiche durch einen nahestehenden Angehörigen mag es keine Rolle spielen, dass das Sekundäropfer nicht sogleich beim Anblick der Leiche sicher sein konnte, dass ein Gewaltverbrechen vorgelegen habe (Abgrenzung zu BSG vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R = BSGE 88, 240 = SozR 3-3800 § 1 Nr 20).

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 23.02.2021 wird zurückgewiesen. 

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aufgrund eines sog. Schockschadens.

Am 12.03.2012 verschwand die Tochter der Klägerin, die 1988 geborene A C, spurlos. Der Ehemann der Tochter, U C, teilte der Klägerin noch am selben Tag mit, dass ihre Tochter nach einem Streit wegen finanzieller Schwierigkeiten "abgehauen" sei. Aufgrund einer am 16.05.2012 erstatten Vermisstenanzeige des Ehemannes wurden Ermittlungen durch das Kriminalkommissariat der Kreispolizeibehörde S-Kreis eingeleitet und u.a. die Klägerin als Zeugin vernommen. Die Ermittlungen blieben zunächst erfolglos. Ende 2012 äußerte die Klägerin gegenüber der Polizei den Verdacht, ihre Tochter könne möglicherweise nicht mehr leben. Am 05.06.2013 berichtete die ZDF-Fernsehsendung "Aktenzeichen XY ungelöst" über den Vermisstenfall. Nach Ausstrahlung der Sendung gelangte die Kriminalpolizei zu der Einschätzung, dass der Verdacht eines Tötungsdeliktes zum Nachteil der Tochter der Klägerin vorliege und leitete am 24.07.2013 ein Ermittlungsverfahren gegen den Ehemann der Tochter ein. Darüber wurde die Klägerin am 08.10.2013 im Rahmen einer neuerlichen Zeugenvernehmung in Kenntnis gesetzt. Der Ehemann der Tochter wurde am 22.01.2014 vorläufig festgenommen. Im Sommer 2014 wurde A C erfolglos weltweit zur Fahndung ausgeschrieben. Mit Urteil vom 02.03.2016 (Az. 105 Ks 3/15) verurteilte das Landgericht (LG) Köln U C wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Nach den Feststellungen der Kammer tötete der Angeklagte am 12.03.2012 in der Zeit von etwa 12.50 Uhr bis spätestens 15.00 Uhr seine Frau A C auf nicht mehr feststellbare Art und Weise vorsätzlich und beseitigte den Leichnam nach der Tötung bis spätestens zum frühen Morgen des 21.03.2012 dergestalt, dass dieser nicht mehr aufgefunden werden konnte. Auf die Revision des Angeklagten wurde die Sache zur erneuten Entscheidung bzgl. des Strafmaßes an das LG Köln zurückverwiesen. Mit rechtskräftigem Urteil vom 19.09.2017 (Az. 321 Ks 4/17) wurde der Angeklagte sodann wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Bereits am 17.04.2014 hatte die Klägerin bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen posttraumatischer Belastungsstörungen aufgrund eines vermutlichen Tötungsdeliktes beantragt. Ihre Tochter sei am 12.03.2012 verschwunden und vermutlich von deren Ehemann getötet worden. Die Polizei habe diesen inzwischen festgenommen und die Akte befinde sich bei der Staatsanwaltschaft.

Der Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft Köln (Az. 91 Js 36/13) sowie Befundberichte der behandelnden Ärzte bei und gelangte zunächst zu der Einschätzung, bei der Klägerin liege ein schädigender Tatbestand im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG in Form eines Schockschadens vor (Aktenvermerk vom 29.01.2018). Sodann beauftragte er den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P mit einer Begutachtung. Dieser gelangte nach ambulanter Untersuchung der Klägerin im Januar 2019 zu der Einschätzung, dass bei der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet eine sonstige Reaktion auf schwere Belastung sowie eine mittelgradige depressive Episode einer rezidi...

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