Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbsminderungsrente. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag. Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

§ 77 SGB 6 rechtfertigt nicht in der erforderlichen Bestimmtheit einen Rentenabschlag für Fälle, in denen eine Erwerbsminderungsrente vor dem 60. Lebensjahr gewährt wird (Anschluss an BSG vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 28.09.2011; Aktenzeichen B 5 R 18/11 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 16.11.2006 sowie die Bescheide der Beklagten vom 27.06.2003 und 25.03.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2005 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Berechnung der Rente des Klägers wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.11.2001 einen unverminderten Zugangsfaktor von 1,0 zugrunde zu legen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers aus dem gesamten Verfahren. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger volle Erwerbsminderungsrente nach einem verminderten Zugangsfaktor gewähren darf.

Der Kläger ist 1963 geboren. Auf seinen Rentenantrag hin bewilligte die Beklagte ihm Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.05.2002 bis zum 31.12.2004 unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles vom 17.10.2001 (Bescheid vom 27.06.2003). Der Rentenberechnung legte sie 11,4059 Entgeltpunkte für Beitragszeiten, außerdem eine Zurechnungszeit vom 01.11.2001 bis zum 31.07.2021 zu Grunde. Unter Berücksichtigung eines für die Zeit vom 01.08.1982 bis 31.05.1999 durchgeführten Versorgungsausgleichs errechnete die Beklagte insgesamt 21,3458 Entgeltpunkte. Den Zugangsfaktor von 1,0 verminderte sie für jeden Kalendermonat nach dem 30.11.2024 bis zum Ablauf des Kalendermonats nach Vollendung des 63. Lebensjahres (am 05.04.2026) um 0,003, d.h. um 0,051. Bei einem Zugangsfaktor von 0,949 nahm sie daher 20,2572 persönliche Entgeltpunkte an. Diese vervielfältigte sie mit dem aktuellen Rentenwert. Auf diese Weise errechnete sie ab dem01.05.2002 einen monatlichen Rentenzahlbetrag von 512,79 EUR brutto bzw. 474,08 EUR netto.

"Gegen die Höhe der Rente" erhob der Kläger mit Schreiben vom 21.07.2003 Widerspruch und führte aus, sein Bruttoverdienst könne nicht vollständig berücksichtigt worden sein. Die Beklagte "half" dem Widerspruch des Klägers insofern "ab", als sie ihm Rente auf Dauer ab dem 01.11.2001 gewährte (Bescheid vom 25.03.2004). Unter Zugrundelegung von nunmehr 20,8242 Entgeltpunkten, einer Zurechnungszeit von 231 Monaten (01.11.2001 bis 31.01.2021), einem Zugangsfaktor von 0,967 (maßgebende Zeit: 31.05.2025 bis 05.04.2026) und dementsprechend reduzierten 20,1370 Entgeltpunkten errechnete sich ein Rentenhöchstwert von 526,18 EUR brutto bzw. 480,66 EUR netto monatlich. Mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2005 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen die Bescheide vom 27.06.2003 und 25.03.2004 zurück. Nachdem der Kläger trotz Aufforderung keine konkreten Beanstandungen hinsichtlich der Bescheide mitgeteilt habe, sei nach Aktenlage über die Rechtmäßigkeit zu entscheiden gewesen. Dabei habe sich insbesondere nicht ergeben, dass Versicherungszeiten nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt worden seien.

Mit der Klage hat der Kläger gerügt, bei seiner Rente seien "nicht alle Beitrags- und Ausfallzeiten" berücksichtigt worden. Die seiner Auffassung nach fehlenden Zeiten hat er nicht präzisiert, sodass das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen hat (Gerichtsbescheid vom 16.11.2006).

Hiergegen richtet sich die Berufung, mit der der Kläger unter Berufung auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 (B 4 RA 22/05 R) die nach seiner Auffassung unzulässige Verminderung des Zugangsfaktors rügt und zudem meint, die Bewertung der beitragsfreien Zeiten in der Zurechnungszeit sei nicht korrekt vorgenommen worden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 16.11.2006 sowie die Bescheide der Beklagten vom 27.06.2003 und 25.03.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.205 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.11.2001 unter Zugrundelegung eines unverminderten Zugangsfaktors von 1,0 zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffenen Bescheide für rechtmäßig und teilt mit, dass sie der Entscheidung des BSG vom 16.05.2006 nicht folge. Zudem sei die Rüge des zu geringen Zugangsfaktors in unzulässiger Weise erstmals im Berufungsverfahren zum Verfahrensgegenstand gemacht worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtswidrig, als die Beklagte dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem Zugangsfakt...

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